Warum wird nicht jeder Au Pair?
Für mich hatte schon immer festgestanden, dass ich nach dem Abitur für eine Zeit ins Ausland gehen würde, ich wollte etwas von der Welt sehen und viele neue, spannende Dinge erleben. Endlich raus aus dem tristen Alltag meiner Kleinstadt, in der jeder Tag vorhersehbar war. Nur wie genau dieses Auslandsjahr aussehen sollte, wusste ich nicht, bis eine gute Freundin mir von ihren Plänen erzählte, Au Pair zu werden.
Au Pair – das klang zu gut, um wahr zu sein, vor allem für jemanden, der bisher über die Grenze Deutschlands kaum hinausgekommen war und nur ab und zu durch Gelegenheitsjobs etwas dazuverdient hatte. Man lebte ein Jahr lang bei einer amerikanischen Familie, verdiente rund 200 Dollar die Woche, studierte am College und hatte die Möglichkeit, durch die USA zu reisen. Im Gegenzug passte man auf die Kinder der Familie auf und fuhr sie zu ihren Aktivitäten. Oder wie meine spätere Agentur es ausdrückte: „Du findest ein neues Zuhause, wirst Teil einer neuen Familie und lernst neue Freunde aus der ganzen Welt kennen.“ Wenn man dann noch eine nette Gastfamilie bekam, konnte das doch nur die Zeit meines Lebens werden! Work & Travel war mir als erstes großes Wagnis zu riskant: ein Jahr lang ständig auf der Reise und pausenlos auf der Suche nach neuen Jobs, da bekam man als Au Pair schon mehr Sicherheiten geboten.
Ich war von der ganzen Sache so hellauf begeistert, dass ich sofort im Internet nach Agenturen suchte. Die erste, die mir angezeigt wurde, nannte sich AP, und warb damit, jedes Au Pair bestens auf das ereignisreiche und unvergessliche Jahr vorzubereiten, und egal, was auch passierte, immer für einen da zu sein. Da es die größte und führende Agentur weltweit war, mit bereits 60.000 erfolgreich vermittelten Au Pairs, und auf eine zwanzigjährige Erfolgsgeschichte zurückblicken konnte, war sie sich sicher, jedem Au Pair das allerbeste Jahr bieten zu können. Die Agentur habe Büros und Ansprechpartner in fünfzig Ländern, die besten Gastfamilien und Au Pairs. Sie setze sich für die höchsten Qualitätsstandards ein und ließ verlauten, das Geheimnis des Erfolges läge ganz einfach darin, dass sie auch als großes globales Unternehmen ihre Kunden so wichtig nähmen, als seien sie persönliche Nachbarn. Man könne sich einer bestmöglichen Betreuung das gesamte Jahr hindurch sicher sein. Alle ihre Mitarbeiter hätten selbst im Ausland gelebt und gearbeitet und wüssten, wie besonders diese einmalige Erfahrung im Leben sei. „Wir haben viel erlebt in den letzten 20 Jahren Au-Pair-Geschichte. Ein Jahr im Ausland mit einer amerikanischen Familie zu leben, ist ein großartiges Programm. Wir geben unser Bestes und sind stolz darauf, dass das Au-Pair-Jahr für so viele unserer Kunden einen großen Unterschied in ihrem Leben gemacht hat. Wir wissen, was Du von uns erwarten kannst, und freuen uns, wenn auch Du Au Pair mit uns wirst.”
Das beste Jahr meines Lebens, Perfektionierung der Englischkenntnisse und zudem noch das Versprechen, dass man persönlich reifen und sich weiterentwickeln konnte. Ich befand mich bereits im euphorischen Überschwang der Gefühle. Zudem gewährte es mir auch noch reichlich Aufschub, bevor ich mir über meinen beruflichen Werdegang Gedanken machen musste. Die zahlreichen Preise, die die Agentur gewonnen hatte, schienen sämtliche Versprechen zu bestätigen.
Zur Vorsicht verglich ich die Rahmenbedingungen noch mit ein paar anderen Agenturen, aber die Bezahlung war überall 195,75 Dollar in der Woche, alle boten eine 5-tägige Vorbereitung auf die Au- Pair-Zeit in New York und man bekam bis zu 500 Dollar Studiengeld. Also beschäftigte ich mich noch etwas genauer mit der Homepage von AP, die mir bis jetzt am vielversprechendsten erschien. Die allgemeinen Informationen lauteten etwa wie folgt: Während eines 5-tägigen Aufenthalts in einer Trainingsschool auf Long Island, würde man bestens auf alles vorbereitet werden und innerhalb der USA gäbe es etwa 600 sogenannte Au-Pair-Coordinators, kurz APC, von denen immer einer mit Rat und Rar zur Seite stehen würde. Für Notfälle könnte man sich sogar mit einer 24-Stunden-Hotline in Verbindung setzen. Es wurde betont, dass das dichte Netzwerk an Betreuern, den bestmöglichen Service sicherstelle und man sich 7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag mit Fragen und Problemen an die Agentur wenden könnte. Das Hauptbüro in Berlin wäre vor allem in der Anfangszeit für einen da, würde bei der Gastfamiliensuche helfen und bei der Kommunikation mit den Kollegen in Boston. An die Programmdirektoren könne man sich als örtliche Ansprechpartner wenden, wenn man sie benötige. Die wichtigste Kontaktperson wäre aber der APC, der in jeder Situation für einen da sei. Gastfamilien müssten, genauso wie Au Pairs, eine umfangreiche Bewerbung ausfüllen und würden persönlich interviewt. AP würde sie sehr sorgsam auswählen, außerdem gäbe es ein einzigartiges Platzierungsmodell, welches sicherstelle, dass individuell sowohl auf die Wünsche des Au Pairs als auch auf die der Gastfamilie eingegangen werden könne. All das sollte garantieren, dass Au Pair und Familie gut zusammen passten. Die enge Zusammenarbeit mit dem US-State-Department würde sicherstellen, dass alle Bestimmungen hinsichtlich Arbeitszeiten – nicht mehr als 10 Stunden am Tag und 45 in der gesamten Woche, mit 1,5 freien Tagen in einer Woche und einem freien Wochenende (2,5 Tage im Monat) und Urlaub (2 bezahlte Wochen im Jahr) eingehalten würden. Das Ganze klang so überzeugend, dass sich in mir nicht der kleinste Zweifel regte, mit AP vollkommen richtigzuliegen. Außerdem wurden Vorbereitungstreffen, sowie Preparation-Workshops angeboten, sodass man schon in Deutschland viel über das Kommende lernen konnte – ich bestellte sofort die kostenlose Infobroschüre.
Diese traf auch recht schnell mit der Post ein und ich konnte mich in weitere vorfreudeweckende Details vertiefen. Man würde ein wichtiger Teil der amerikanischen Gastfamilie werden, zugleich Vorbild, Freundin als auch große Schwester für die Kinder verkörpern, könne der Familie ein Stück der eigenen Kultur vorstellen und im Austausch dafür ein neues Zuhause bekommen. In der Freizeit würde man das College besuchen, Freunde treffen, quer durch die USA reisen, viel Neues erleben, natürlich Englisch lernen und das echte Amerika erleben. Die Voraussetzungen bestanden lediglich darin, zwischen 18 und 26 Jahre alt zu sein, einen Führerschein zu besitzen, mindestens 200 Stunden Kinderbetreuungserfahrung zu haben, über gute Englischkenntnisse zu verfügen, Abitur, Realschulabschluss oder Hauptschulabschluss plus Ausbildung nachweisen zu können, positiv, flexibel, selbstständig sowie verantwortungsbewusst zu sein, ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis vorlegen zu können und über einen gesunden Allgemeinzustand zu verfügen. Dafür bekam man nicht nur ein großartiges Jahr geboten, sondern auch noch einen dreizehnten Monat zum Herumreisen und somit die Möglichkeit, noch einmal etwas mehr von Amerika zu sehen. Endlich würde mein Leben richtig beginnen! Fast schon mitleidig blickte ich auf meine Mitschüler, die sich diese aufregende Gelegenheit entgehen ließen. Warum wurde nicht jeder Au Pair?
Auf einer Seite der Broschüre waren Fotos von jungen Menschen abgebildet, die allesamt davon schwärmten, dass Au Pair zu werden die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen sei, sie unglaublich viel erlebt und gesehen sowie eine zweite Familie gefunden hätten, die sie immer wieder besuchen könnten, sie sich sehr positiv weiterentwickeln konnten, immer unterstützt worden und generell von der Freundlichkeit der Amerikaner begeistert seien. Bald würde ich genau das Gleiche sagen können! Die Gastfamilien, sorgfältig ausgewählt und vorbereitet, seien mehr als bereit, das Au Pair als Familienmitglied aufzunehmen und somit während des Jahres natürlich die wichtigste Unterstützung. „Eine typische AP-Gastfamilie besteht aus zwei berufstätigen Elternteilen, zwei bis drei Kindern, lebt im Vorort einer großen Stadt, hat bereits Erfahrung mit Au Pairs und freut sich wahnsinnig auf dich! Eins haben alle Familien gemeinsam, das Interesse an anderen Kulturen, während sie die eigene gerne mit dir teilen möchten.”
Ein APC schwärmte davon, wie schön es für die Gastfamilien sei, durch das Au Pair andere Lebensarten vermittelt zu bekommen, dieses dafür die Möglichkeit hätte, das Land zu entdecken und lebenslange Freundschaften zwischen Au Pairs und Gastfamilien entstehen würden. Ein Au Pair betonte noch einmal, dass sie glaube, keine Agentur könnte bei dem mithalten, was AP zu bieten wisse, und auch sie habe das schönste Jahr ihres Lebens gehabt. Trotz der zahlreichen Länder, aus denen Au Pairs vermittelt wurden, liebten die Gasfamilien wohl aber vor allem die Bewerber aus meinem Heimatland. Es gäbe viele wundervolle Gasteltern, die möchten, dass ihre Kinder mehr über die deutsche Kultur lernen und sehr glücklich über die fantastischen deutschen Mädchen seien. Schenkte man der Vize-Präsidentin Glauben, dann war es wohl ein Kinderspiel für ein deutsches Au Pair, eine Familie zu finden. Made in Germany stand halt immer noch für Qualität.
Um das ganze kommende Glück noch weiter zu verdeutlichen, hatten sie sogar einen Werbefilm gedreht, in dem Au Pairs mit niedlichen, unschuldig wirkenden Kindern gezeigt wurden, die am Strand spielten, während eine freundliche Frauenstimme ertönte: »Wir suchen nach jemand besonderem, jemanden, der positiv, abenteuerlustig, immer bereit für eine Herausforderung, liebevoll sowie kinderlieb ist, jemand, der den amerikanischen Traum erleben möchte. Bist du das?Dann bist du der perfekte Kandidat, um ein AP-Au-Pair zu werden!« Man sah nun die Golden Gate Bridge, gefolgt von Au Pairs, die mit wehenden Haaren am Meer entlangliefen sowie einen wunderschönen Nationalpark, während die Frau verkündete, dass dies nur eine Andeutung davon sei, wie großartig das nächste Jahr werden könne. Alles würde mit dem Finden der richtigen Familie anfangen, denn »Du bist einzigartig« und sie würden alle Ressourcen nutzen, um das perfekte Match zu ermitteln. Zum Beweis wurden eifrige Mitarbeiter in einem Büro gezeigt: »Wir sind ein fantastisches Team, das die Familien und Au Pairs auf einer eins zu eins Basis matcht. Der APC besucht die Familien persönlich, um sie kennenzulernen und sicherzustellen, dass sie die gleichen Interessen wie das Au Pair habe. Wir sind wirklich Experten beim Matchingprozess.«
Es tauchte die eindrucksvolle Trainingsschool auf Long Island auf, in der man andere Au Pairs aus der ganzen Welt treffen, sowie mehr über Kinderbetreuung lernen würde. Eine Lehrerin verkündete strahlend, die Zeit an der Schule sei sehr wichtig, sie wolle den Au Pairs vermitteln, dass sie ein Geschenk an die Gastfamilie seien, da sie den Kindern eine Menge über das Leben lehren könnten. Ein Au Pair bekräftigte, wie „cool” sie es auf der Schule fände, da sie ja schon eine Menge neuer Freunde getroffen habe. New York erschien nun auf dem Bildschirm und die Frauenstimme erschallte, dass man die Chance habe, mit neuen Freunden die Stadt, die niemals schläft, zu erkunden und danach die Familie treffen würde, die mehr als gespannt darauf sei, einen endlich in die Arme schließen zu können. Damit man diese Freude, die einen bald erwartete, auch wirklich begriff, sah man lachende Au Pairs auf strahlende Kinder zurennen und sich gegenseitig um den Hals fallen. Die Kamera vollführte einen Schwenker, und eine Gastmutter in schicker Bluse jubilierte, dass AP ihre Bedürfnisse perfekt gematcht hätte und sie dank des internationalen Austausches viel über andere Kulturen lernen könne. Sie hätte ein großartiges Jahr gehabt, das Au Pair sei wirklich Teil der Familie geworden und die Kinder würden sie über alles lieben.
Das war aber noch nicht alles, denn hier ging es darum, wirklich jeglichen Zweifel aus dem Weg zu räumen. Als Nächstes wurde der typische Tagesablauf anhand einer Schwedin mit einem zweijährigen Kind gezeigt. Morgens gab es Frühstück, danach schaute die Kleine Cartoons, weiter ging es zum Spielplatz oder Strand, gefolgt von Lunch und einem zweistündigen Mittagsschlaf (des Kindes, nicht des Au Pairs). Als dieser vorüber war, entschied man sich entweder für einen weiteren Ausflug, oder die beiden bastelten und malten friedlich. Wenn man ältere Kinder betreue, würde man ihnen bei den Hausaufgaben helfen sowie reichlich großartige Qualitätszeit mit ihnen verbringen. Ein brasilianisches Au Pair berichtete, wie viel Spaß alles mache, wie sehr ihr ihre Gastfamilie geholfen und wie viel sie ihr gezeigt habe. Im Hintergrund sah man einen beeindruckenden Pool funkeln.
Mit ungebrochener Begeisterung fuhr die Frauenstimme fort, dass man aber auch noch eine sehr andere wichtige Person treffen würde, den APC, der da sei, um dem Au Pair die nötige Führung und Unterstützung zu geben. Ein Mädchen verkündete, sie habe eine sehr gute Beziehung zu ihrem APC, da diese außerordentlich nett sei. Natürlich meldete sich selbst auch noch ein freudestrahlender APC zu Wort, und betonte, wie wichtig es für sie war, den Au Pairs zu helfen und immer ansprechbar zu sein, damit sie jemanden zum Reden hätten. Zusätzlich sei sie als APC für das Organisieren von monatlichen Meetings, bei denen man auch nochmals die Möglichkeit habe, Freunde aus der ganzen Welt zu treffen, zuständig. Nach diesem verheißungsvollen Statement übernahm die Hintergrundstimme wieder das Wort: »In Amerika zu leben, das ist es, worum sich alles dreht. Die Freizeit ist perfekt, um mehr zu erleben, bei einem morgendlichen Kaffee zu relaxen, shoppen zu gehen, sich mit Freunden Sehenswürdigkeiten anzugucken oder an den Strand zu gehen. Jeden Tag erlebst du den ‘American way of life‘ und sprichst Englisch.« Au Pairs erzählten begeistert, dass sie jedes Wochenende mit Freunden verbringen und immer spannende Neuigkeiten entdecken würden. Sechs Credits of Study waren vorgeschrieben, aber das College sei sehr interessant, man könne Kurse belegen, die einem für die spätere Karriere nützlich seien und natürlich amerikanische Studenten kennenlernen.
Die unablässige Begeisterung der Stimme steigerte sich zu einem euphorischen Ausruf: »Lasst uns die USA bereisen! Du hast 2 Wochen bezahlten Urlaub und einen ganzen Reisemonat. Wofür wirst du dich entscheiden? Für Surfen und Spaß in Kalifornien, den Freedom Trail in Boston entlangzugehen, in Yosemite zu wandern oder den Grand Canyon zu bewundern?« Auf jeden Fall würde es aber ein „Year to remember” im Herzen einer amerikanischen Familie werden. »Was wird dir am stärksten in Erinnerung bleiben? Kürbisschnitzen mit der Gastfamilie? Der erste Blick auf die Freiheitsstatue? Freunde aus aller Welt? Dein neues Zuhause? Hand in Hand mit deinen Gastkindern zu gehen?« Ein APC erzählte noch, wie sehr die Au Pair sich weiterentwickeln, Selbstvertrauen gewinnen und ein starkes Band zu ihrer Gastfamilie knüpfen würden. Ein Mädchen verkündete lachend, sie wünschte, sie könne ihr Gastkind mit zurück in die Heimat nehmen. Zum Abschluss schaltete sich vergnügt wieder die weibliche Stimme ein: »Ein Jahr als AP-Au-Pair wird dein Leben bereichern und dir einen Haufen besonderer Erinnerungen schenken. Also, warum lässt du uns nicht heute schon damit beginnen, die für dich perfekte Familie zu finden?!«
Ja, warum nicht? Nachdem ich das alles gesehen und die Broschüre studiert hatte, fragte ich mich, wer sich diese Gelegenheit guten Gewissens entgehen lassen konnte. Es war zumindest genau das, was ich wollte: Viel von den USA sehen, ein neues Leben führen, interessante Menschen treffen und als i-Tüpfelchen noch eine zweite Familie finden und gut Geld verdienen.
Somit stand es also fest. Ich würde ein Au Pair werden und noch heute mit den Vorbereitungen dafür anfangen. Amerika erwartete mich. Ich würde es im Sturm erobern.
Hätte ich bloß ein wenig von dem geahnt, was alles auf mich zukommen würde…