Die Matches
Die Familie lebte in Washington, D.C. und bestand aus dem Vater Ernest, der sich mit Finanzen beschäftigte, der Mutter, Amita, einer Inderin, die für eine Wohltätigkeitsorganisation arbeitete und den beiden Kindern, einem achtjährigen Jungen sowie einem neunjährigen Mädchen. Ihre Hobbys entsprachen so gar nicht den meinen – Sport und Wandern, war ich doch die größte Katastrophe, die die Bundesjugendspiele je gesehen hatten. Allerdings schrieb Amita mir sofort eine Mail, in der stand, dass sie von meiner Bewerbung sehr beeindruckt seien und denken würden, ich sei ein gutes Match. Seit drei Jahren lebten Au Pairs bei ihnen, und ich wäre das Vierte. Zu allen Vorherigen hätten sie eine außerordentlich gute Beziehung aufgebaut und würden sich deswegen sehr darauf freuen, ein neues willkommen zu heißen. Die Mail klang nett und ich wollte definitiv mit den Eltern erst einmal persönlich sprechen, auch wenn die Bewerbung mich auf Anhieb nicht gerade umhaute – ich war wirklich nicht sehr sportlich.
Aber trotzdem, mein erstes Gespräch mit einer potenziellen Gastfamilie – die Nerven lagen wieder einmal blank! Unruhig sprang ich Zeit durch das Haus, was wiederum meine Familie ganz verrückt machte, und schrieb mir anhand des Au-Pair-Handbuches eine Menge Fragen auf, mit denen ich jedes drohende unangenehme Schweigen im Keim ersticken konnte. Als das Telefon dann tatsächlich klingelte, erwähnte ich kurz, mich aus dem nächsten Fenster zu stürzen, aber Amita klang so nett, dass alle Panik sofort verflogen war. Mein Englisch genügte nicht nur, um alle ihre Fragen zu verstehen, sondern auch, um sie ausführlich zu beantworten. Und was sie erzählte, klang alles recht vielversprechend.
Ich hätte eine ganze Etage für mich allein und würde nicht viel arbeiten müssen, da die Kinder die meiste Zeit in der Schule seien. Außerdem läsen alle, so wie ich, sehr gerne Bücher, es gäbe viele Au Pairs in der Nachbarschaft, ich hätte keine Ausgehbeschränkung und müsste auch nicht Auto fahren, sondern würde ein Fahrrad zur Verfügung gestellt bekommen. Da der Führerschein in meinem Portemonnaie noch nicht lange dort verweilte und meine Fahrerfahrung sich auf die Strecke zum nächsten Supermarkt beschränkte, empfand ich dies nur als weiteren Pluspunkt.
Auch vom Foto der Kinder, das sie mir schickte, war ich ganz begeistert, beide sahen aus, wie direkt der Agentur-Homepage entsprungen. Wie auch meine Geschwister und ich wuchsen sie ohne Fernseher auf – daher die geteilte tiefe Liebe zu Büchern.
Das zweite Gespräch, ein paar Tage später mit Ernest, dem Gastvater, verlief leider um einiges schlechter. Er klang eher distanziert und geschäftlich. Offenbar hatte er eine Art Fragebogen vorbereitet, den er abarbeitete und meine Antworten zu allem Überfluss auch noch mitschrieb, sodass ich zunehmend nervöser wurde. Zusätzlich verunsicherte es mich, dass er kein einziges Mal lachte, etwas, das ich fast nach jedem Satz tat, um die Stimmung ein wenig aufzulockern, was aber überhaupt nicht funktionierte. Ich war froh, als ich das Telefonat, das sich eher wie ein Verhör angefühlt hatte, hinter mich gebracht hatte.
Amita schrieb mir später, dass sie ihrem jetzigen Au Pair, Sara, meine E-Mail-Adresse gegeben hatten und diese sich mit mir in Verbindung setzen würde, falls das in Ordnung sei. Ich nutzte sofort die Gelegenheit, um alles, was mir so durch den Kopf schoss, loszuwerden und auf das arme Mädchen abzufeuern. Sara zeigte sich anfangs ein wenig geschockt angesichts der hohen Anzahl an Fragen, gab sich dann aber doch große Mühe, sie alle zu beantworten. Obwohl das vorige Au Pair nicht allzu viel Positives berichtet habe, sei die Zeit für sie kein Problem gewesen. Dank der vielen Freizeit schaffe sie es, drei- bis fünfmal pro Woche Sport zu machen, die Scheidung ihrer Eltern aufzuarbeiten, zu lesen und zu stricken. Washington sei gar nicht so groß und man habe ziemlich schnell alles gesehen, auch wenn es eine beeindruckende Auswahl an Museen gäbe.
Das klang jetzt nicht ganz so nach der aufregenden Zeit, die ich hoffte, in Amerika zu erleben. Die Kinder seien süß, zumindest wenn sie wollten. Das Au Pair vor ihr habe jedoch neun Monate gebraucht, um wirklich mit ihnen klarzukommen, und bei dem Mädchen davor hätte es noch länger gedauert. Noch länger? Wie war das denn möglich? Waren die Kinder erst am Tag des Abflugs umgänglich geworden? Auf jeden Fall steckten beide wirklich die meiste Zeit ihre Nase in Bücher, beschäftigen sich viel alleine oder hätten Playdates. »Bei dem Mädchen musst du allerdings aufpassen, sie spielt sehr gerne ihre Machtspielchen. Da ist es wichtig, ihr zu zeigen, wer das Sagen hat. Das musst du aber leider bei den Kindern in den USA generell. Immerhin hat diese Familie klare Regeln aufgesetzt. Vor allem Geduld brauchst du. Wenn die beiden mit etwas beschäftigt sind, hören und sehen sie nichts anderes. Vor allem unter Zeitdruck hat mich das schon in viele Stresssituationen gebracht.« Bei gutem Wetter würden sie oft zum Pool gehen, mit Basteln seien die Kinder nicht wirklich zu begeistern.
Vergleiche mit den früheren Au Pairs blieben einem seitens der Kinder erspart, da sie wüssten, dass jedes Mädchen anders sei und sowohl gute als auch schlechte Seiten habe. Die ersten Tage in New York wären allerdings sehr schwer für Sara gewesen, da sie nicht wusste, was alles auf sie zukommen würde und sie ihren Freund sehr vermisst hätte. In der Nachbarschaft gäbe es zwar recht viele Au Pairs, aber sie sei eher jemand, der nur eine gute Freundin habe, als viele oberflächliche, sodass es ihr schwerfiel, Kontakte zu knüpfen. »Ich würde aber auf jeden Fall wieder Au Pair werden, auch in der gleichen Familie, da ich insgesamt viele Freiheiten genossen habe und im Haushalt wenig machen musste.« Die Wochenenden hatte sie immer frei, außer vielleicht einmal im Monat für zwei bis drei Stunden, und kam so dazu, recht viel zu unternehmen. Wieder minderjährig zu sein, sprich in Amerika jünger als 21, sei für sie kein Problem, da sie sowieso nicht gerne feiern gehe. Da ich bisher noch keinen Tropfen Alkohol angerührt und vielleicht dreimal einen Club von innen gesehen hatte, konnte ich ihr in diesem Punkt nur beherzt zustimmen.
Das klang zwar alles recht gut, aber es beunruhigte mich, dass die beiden Mädchen vor ihr so lange gebraucht hatten, um mit den Kindern klarzukommen. Das und die Tatsache, dass ich mir doch mehr Aktivitäten in der Nähe wünschte als Museen, verhinderten das von AP angekündigte Gefühl, die perfekte Familie gefunden zu haben. Andere Au Pairs gaben sich wahren Begeisterungsstürmen hin und schwärmten von dem Wissen, die Traumfamilie gefunden zu haben. Und genau dieses Gefühl wollte sich nicht so ganz bei mir einstellen.
Ich wurde von zu vielen Zweifeln geplagt und als ich im Internet las, dass, wenn einem das Bauchgefühl nicht hundertprozentig ja sagte, man die Familie nicht nehmen solle, entschied ich mich, wenn auch schweren Herzens, für eine Absage. Mir tat es leid, da die Familie schon so viel Mühe in mich investiert hatte und laut Sara ganz begeistert von mir sei. Aber andererseits sollte dieses Jahr nun mal, wie es ja überall angepriesen wurde, das beste meines Lebens werden, und da musste eben alles stimmen. Trotzdem beschlich mich die Angst, meine Chance vertan zu haben. Vielleicht würden die folgenden Matches noch weniger passen? Das war etwas, das mich an dem Vermittlungssystem sehr störte, warum konnte man immer nur eine Familie im Account haben? So wurde ein Vergleich verhindert und brachte bei einer Ablehnung die stete Unsicherheit mit sich, ob die folgenden Matches, besser oder schlechter wurden.
Ich erfuhr allerdings, dass viele Au Pairs ihr erstes Match ablehnten, obwohl AP davor warnte, da laut ihnen das erste immer am besten passen würde, und fanden ihre Traumfamilie oft erst beim achten oder neunten Match. Also schrieb ich Amita eine ausführliche Mail, entschuldigte mich erst einmal für meine Entscheidung und beteuerte, dass sie eine großartige Familie seien, aber ich nicht glaubte, dass ich das richtige Match für sie wäre, und sie bestimmt etwas Passenderes finden würden, wobei ich ihnen viel Glück wünschte. Kaum hatte ich die Mail allerdings abgeschickt, landete im Gegenzug eine von AP in meinem Postkorb: „Herzlichen Glückwunsch, die Familie würde dich gerne in ihrem Haus als Au Pair willkommen heißen. Sie erwarten deine Ankunft am 20. August.”
Was für ein Timing! Ich war überrascht, da ich zwar mitgekriegt hatte, dass ich ihnen gefiel, mich aber weder die Gasteltern noch die Organisation gefragt hatten, ob ich denn überhaupt das neue Au Pair sein wollte. Was nun? Ich hatte ihnen die Absage genau im selben Moment geschickt, wie sie mir die Einladung. Was, wenn schon alles unter Dach und Fach war? Die Kinder eingeweiht? Der Flug gebucht? Leicht panisch rief ich in Berlin an, um mich genauer zu erkundigen, und zum Glück war diesmal jemand Nettes am Telefon. Mir wurde versichert, dass das Missverständnis sofort geklärt und ich ein neues Match bekommen würde. Erleichtert legte ich auf, hatte ich doch fast erwartet, wieder bei der reizenden Eiskönigin zu landen, die mir wohl noch vorgeworfen hätte, zu wählerisch zu sein und mir zu predigen, dass ich so nie im Leben weiterkommen würde. Doch jetzt war ja alles geklärt.
Nur wenige Tage darauf erhielt ich bereits einen neuen Familienvorschlag aus Seattle. Die Mutter war Managerin bei Amazon und der Vater ein Lehrer aus Deutschland, weswegen ich mit den Kindern, zwei Mädchen, auch Deutsch sprechen sollte. Die Gastmutter schrieb mir, dass sie meine Bewerbung sehr mögen würden und ich doch erstmal mit ihrem jetzigen Au Pair, Claire, telefonieren solle. Diese rief mich kurz darauf an und wir redeten fast anderthalb Stunden lang. Sie war soweit ziemlich begeistert von ihrem Au-Pair-Jahr, hätte relativ viel Freizeit, käme gut mit den Mädchen und den Eltern klar, die kein Problem damit hätten, dass sie am Wochenende eigentlich nur etwas mit Freunden unternahm. Seattle sei auch toll, Hawaii ganz in der Nähe und bis jetzt hätte sie nicht eine Sekunde Heimweh gehabt. Ich wunderte mich lediglich darüber, wie sie es geschafft hatte, bis jetzt alles, was sie verdient hatte, wieder komplett auszugeben, erschienen mir 200 Dollar die Woche nach wie vor unglaublich viel. Trotzdem klang alles sehr vielversprechend, bis auf die geringe Tatsache, dass Seattle sehr hügelig sei und für das Au Pair nur ein Auto mit Gangschaltung zur Verfügung stand. Es gab für mich kaum etwas Schlimmeres, als die Vorstellung am Berg anfahren zu müssen, aber wenn sonst alles stimmte, würde ich das schon hinkriegen. Was ich bis jetzt gehört hatte, gefiel mir auf Anhieb viel besser als bei dem Match davor. Die Kinder hatten jeden Tag volles Programm: Schule, Sport, Musikunterricht, Kunstunterricht,…das hieß ich würde das mit dem Autofahren zur Genüge üben können – es konnte also kaum noch etwas schiefgehen. Tat es dann aber doch.
Kurz darauf bekam ich nämlich eine Mail, in der die Gastmutter schrieb, dass es ihr sehr leidtäte, aber sie sich für ein anderes Au Pair entschieden hatten. Es sei ihnen äußerst schwergefallen, da ich die beste Bewerbung hätte, die sie jemals gesehen hatten, aber das andere Mädchen stünde schon länger mit ihnen in Kontakt und hätte schon weitaus länger warten müssen. Darum war die Wahl auf sie gefallen. Immerhin hängte sie noch ein paar tröstende Worte an das Ende der Nachricht: Ich würde ja sicher schnell eine andere Familie finden und sie dankte mir für die Zeit, die ich bereits in sie investiert hatte.
So konnte es gehen, der ersten Familie hatte ich abgesagt und die zweite nun mir.