Die Trainingsschool Tag 1 – In der Nähe von New York City
Etwa gegen sechs Uhr morgens weckte mich das mitleiderregende Quietschen und Knarzen des Bettgestells, als das Mädchen über mir erfolglos versuchte, sich möglichst unauffällig anzuziehen. Doch mein anfänglicher Unmut verflüchtigte sich schnell, dank der verheißungsvollen Erkenntnis, ich könnte das Badezimmer tatsächlich für mich alleine haben. Anscheinend hatte ich jedoch nicht als einzige diesen Gedanken gehabt, denn schon auf dem Flur traten sich die Mädchen bei dem Versuch, eine Schlange zu bilden, gegenseitig auf die Füße. Meine Befürchtungen über den Zustand des Bades verschlimmerten sich jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wurde und ein Schwall Wasser sich auf die Schuhe der Umstehenden ergoss. Ich hoffte sehr, dass dieses von den Duschen und nicht den Toiletten stammte.
Als ich endlich selber an der Reihe war und den stickigen, vollgedrängten Raum betrat, musste dieses Rätsel ungelöst bleiben. Denn ausnahmslos alles stand unter Wasser und es war unmöglich festzustellen, woher es kam. Privatsphäre stellte sich im Wild West der Hygieneunternehmungen als vergebliche Hoffnung heraus. Dass die Duschen nur durch einen hauchdünnen Vorhang voneinander getrennt waren, war vielleicht noch zu ertragen, doch spätestens bei den Toiletten hätte man sich wünschen können, dass der Sichtschutz mehr gewesen wäre, als nur die Andeutung eines guten Willens. Jeder Vorbeigehende hatte dank ausreichend großer Lücken und Spalten die Gelegenheit, einen ausgiebig zu beobachten.
Manche Mädchen schienen sich ihrem Schicksal bereits vollständig ergeben zu haben und rannten einfach direkt unbekleidet durch die Gegend. Da die Anzahl der Menschen, die mich nackt gesehen hatten, sich auf zwei begrenzte – meine Eltern, als ich noch ein Kleinkind war – presste ich zwanghaft mein Handtuch an mich und versuchte, das Grauen so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Eigentlich wurde Duschen sowieso überbewertet. »Gut gesprüht ist halb geduscht«, versuchte ich mir selber gut zureden, als ich energisch meine Deoflasche schüttelte.
Mein Nervenkostüm war bereits dünner als die Duschvorhänge, als ich mich zusammen mit Caro auf den Weg zum Speisesaal machte. Dieser lag in einem anderen Teil des Gebäudes, so viel hatten wir gestern vom Vortrag tatsächlich noch mitbekommen. Dort trafen wir endlich mit Amelie zusammen, die ganz woanders im Haus untergebracht war. Unsere Erzählungen über den Waschraum, der uns noch lange in unseren Träumen verfolgen sollte, quittierte sie nur mit einem müden Lächeln. Sie musste sich ihr Zimmer mit fünf anderen Mädchen teilen und ihr Bett verdiente diesen Namen eigentlich nicht wirklich, denn es war kaum mehr als ein wackliges Eisengestell mit einer dünnen Schaumstoffmatte. Sie würde jetzt noch jede einzelne Schraube spüren. Und ihr Bad sei zwar nicht so überfüllt gewesen, dafür habe das Wasser eine bräunliche Farbe gehabt und unangenehm gerochen. Wer sich damit geduscht hatte, musste über ein Durchhaltevermögen verfügen, das uns vor Ehrfurcht erschauern ließ.
Wir holten uns ein paar Bagels mit Cream Cheese vom Buffet und vertreiben uns beim Essen die Zeit damit, die anderen Mädchen aus den unterschiedlichsten Ländern zu beobachten. Nachdem wir die berüchtigten Schwedinnen erblickt hatten, die tatsächlich allesamt groß, schlank, blauäugig und mit wallenden blonden Haaren gesegnet waren, entbrannte zwischen uns eine Diskussion darüber, wie stark eine Ehe sein musste, um so einen Familienzuwachs unbeschadet zu überstehen. Aber vielleicht war es auch einfach nur ein Test von Seiten der Gastmutter.
Um Viertel nach acht begann der Unterricht, der uns auf das Au-Pair-Jahr vorbereiten sollte. Die Einteilung in mehrere Klassen und die Ausstattung der Unterrichtsräume erinnerten mich doch leider sehr stark an meine Schulzeit, von der ich dachte, ihr jetzt endlich entkommen zu sein. Unsere Lehrerin verscherzte sich auch gleich sämtliche Sympathiepunkte bei mir, indem ihre allererste Aktion darin bestand, mich von Amelie und Caro wegzusetzen. An dem Tisch säßen ihr zu viele Deutsche, wir seien ja schließlich hier, um unser Englisch zu verbessern. Nicht, dass dafür in einem Jahr noch genug Zeit gewesen wäre.
Den Beginn machte dann tatsächlich die traditionelle Vorstellungsrunde, deren Sinn sich mir nicht ganz erschloss, da wir nur ein Wochenende in der Schule verbringen und einen Großteil der anderen Mädchen danach nie wiedersehen würden. Ich brachte das Ganze schnell hinter mich und leierte meinen Namen und meine Hobbys direkt als Zweite herunter, nach dem einzigen Jungen in der Gruppe. Kurz darauf brach ein Mädchen bei ihrer Vorstellung in Tränen aus, weil sie bereits solches Heimweh plagte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte und uns sichtlich beschämt ansah. Danach war die Stimmung ein wenig beklommen.
Um zehn gab es eine kurze Pause, welche wir dazu nutzen konnten, uns für den New-York-Trip anzumelden, den die Schule anbot und ihn auch gleich zu bezahlen. Vorausgesetzt, man gehörte nicht zu den Glücklichen, wie Amelie, deren Gastfamilie ihr diesen sponserte. So hatte sie mehr Zeit, noch einmal mit ihrer Gastmum zu telefonieren. Überglücklich erzählte sie uns danach, wie viele tolle Dinge sie schon zusammen geplant hatten.
Der Unterricht, der, es sei hier nochmal erwähnt, dazu gedacht war, uns auf die Schwierigkeiten des Au-Pair-Lebens vorzubereiten und gute Ratschläge zu geben, stellte sich als Ansammlung von Skurrilitäten heraus. Dass man sich nach der Benutzung der Toilette die Hände waschen sollte, wurde uns so in der ersten Stunde erklärt. Anfangs glaubte ich noch, es wäre ein Scherz, und gleich würde jemand lachend den Raum betreten und mit dem wirklichen Unterricht beginnen.
Stattdessen bekamen wir einen Film gezeigt, in dem eine sichtlich nervöse Frau, deren schrille Stimme mit ihren 90er-Jahren Klamotten um Aufmerksamkeit wetteiferte, uns vor Gefahrenquellen für kleine Kinder warnen sollte. Kinder sollten ja nicht mit Kettensägen spielen oder Putzmittel trinken. Damit musste ich dies also leider von meinem Aktivitätenplan streichen. Absolute Priorität legte die Schule aber auf den Grundsatz: „Never shake a baby“. Angeblich hatten schon einige Au Pairs ihre Gastkinder durch entnervtes Schütteln mehr oder weniger unabsichtlich getötet. Damit wir so etwas nicht taten, verbildlichten uns überall Plakate an den Wänden die Gefahren des Schüttelns für kleine Kinder und natürlich gab es auch dazu noch einen Film, der diesmal nicht nur unsere Nerven, sondern auch unseren gesunden Menschenverstand angriff.
Die Thematik des Lehrstoffes verblieb auch weiterhin auf diesem Niveau. Als Nächstes sollten wir Plakate zu den schlimmsten Kinderkrankheiten basteln. Gut, das war ja irgendwo noch sinnvoll, aber war es wirklich nötig, uns dafür ein gutes Dutzend Seiten in einem geschätzt drei Kilogramm schweren Workbook ausfüllen zu lassen? Anscheinend.
Immerhin hatte zumindest der letzte Programmpunkt nichts mit Kettensägen und furchtbaren Ausschlägen zu tun. Wir durften uns den restlichen Nachmittag mit Basteln vertreiben, was wir auch gerne taten. Zumindest so lange wir noch nicht wussten, dass wir dabei von typischen amerikanischen Kinderfernsehshows begleitet werden würden. Ich war mir ziemlich sicher, einmal eine Kettensäge in blutiger Aktion zu sehen.
Endlich Dinnerzeit. Es gab Maiskolben sowie Burger und den Abschluss des Tages bildete das berühmt-berüchtigte „Sing Along“. Ich hatte schon einige Geschichten darüber gehört und selbst auf YouTube fanden sich Videos, die die allgemeine Qual nur allzu bildlich darstellten. Die Au Pairs wurden nach Nationalitäten eingeteilt und mussten dann jeweils auf der Bühne vor allen anderen singen und tanzen.
Zu allem Überfluss herrschten in der Halle, dank der äußerst fleißig arbeitenden Klimaanlage, Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt. Schnee, der plötzlich von der Decke gerieselt wäre, hätte mich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr überrascht. So drängten sich Gruppen teilweise zitternder Mädchen auf der Bühne zusammen und versuchten tapfer, ihre mehr oder wenig ausgeprägten Gesangs- und Tanzkünste zur Schau zu stellen. Zu meiner unendlichen Erleichterung gab es so viele Deutsche, dass wir selbst nach einer Aufteilung in drei Gruppen mit 38 Mädchen auf der Bühne standen. Also genug, um in der breiten Masse unterzugehen.
Ein paar andere hatten nicht so viel Glück und landeten nur zu zweit oder dritt auf der Bühne. Und vor den kritischen Augen von mehr als 300 Leuten unvorbereitet etwas vorzusingen, erfordert meiner Meinung nach ganz schön viel Mut. Um genau zu sein waren wir 261 Mädchen und 8 Jungen, die bisher größte Au-Pair-Gruppe, wie uns eine Lehrerin am Anfang stolz verkündet hatte. Alles in allem war der Abend aber doch recht lustig und definitiv ein einmaliges Erlebnis.
Ein paar Leute, darunter auch ich, versuchten mithilfe der bereitgestellten Computer mit ihren Gasteltern oder der Familie daheim in Kontakt zu treten. Ein Unterfangen, welches in der gemächlichen Internetverbindung einen starken Gegner fand. Das Laden einer einzigen Seite dauerte etwa acht Minuten. Ehrlich, nach einer Weile fingen wir an, die Zeit zu stoppen. Die meisten gaben irgendwann verzweifelt auf, gingen zur Stressminderung eine Zigarette rauchen oder ließen sich mit noch von der vorherigen Nacht schmerzenden Gliedern auf die unbequemen Eisenbetten sinken.