America, Here I Come!
America here I come – endlich, der Moment, auf den ich seit Monaten ungeduldig hingefiebert hatte, da war er.
Nach den ganzen schlaflosen Nächten machte ich mich nun bereit, aufzubrechen und mein Zuhause für ein Jahr hinter mich zu lassen. Doch vorerst erreichte das schwelende Chaos an diesem letzten Tag einen nervenaufreibenden Höhepunkt. Meine Oma hatte in den letzten Tagen versucht mir zu helfen, indem sie eine sich ständig weiter perfektionierende Kofferpackkunst entwickelte, die garantieren sollte, dass ich so viel wie möglich in das eine Gepäckstück hineinbekam. Es wollte trotzdem partout nicht passen, sodass ich ihre ganze großartige Planung spontan über den Haufen warf und doch noch ein zweiter Koffer dran glauben musste. Das brachte sie den Tränen nahe und auch meine Mutter reagierte völlig entnervt. Hektik, Geschrei sowie Tränen zeichneten diesen letzten Morgen, und dann zeigte die Uhr auch schon kurz vor zwölf an, jetzt mussten wir aber wirklich los! Es folgte der erste Abschied, denn für meinen einen Bruder war wegen der Kofferungetüme schlichtweg kein Platz mehr im Familienauto und er konnte nicht mit zum Flughafen.
Am Bahnsteig warteten bereits zwei meiner Freundinnen, um mir ebenfalls alles Gute zu wünschen und auf Wiedersehen zu sagen. Genau wie der erste, fiel auch dieser Abschied mir erschreckend leicht, vielleicht weil ich das Ganze noch immer nicht wirklich realisieren konnte. Die einstündige Zugfahrt nach Frankfurt ging relativ schnell vorbei, und wenn man bedenkt, wie groß der Frankfurter Flughafen ist, war es doch eine ganz beachtliche Leistung, den richtigen Check-in-Schalter nach nur einmaligem Verlaufen gefunden zu haben. Mein Vater versuchte, mehrere Angestellte dazu zu bringen, Caro und mir Sitzplätze nebeneinander zu beschaffen, aber leider stellte sich dies als ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen heraus, da alle Angesprochenen darauf bestanden, dass, um so etwas zu organisieren, beide Personen anwesend sein müssten, und Caro ließ noch eine ganze Stunde auf sich warten.
Da wir von ihrer Verspätung aber nichts wussten, verbrachten wir die Zeit damit, angestrengt nach ihr Ausschau zu halten. Ein braunhaariges Mädchen meines Alters in Begleitung einer Familie, die, wenn sie auch nur halb so aufgebracht und durcheinander war wie die meinige, eigentlich nicht zu übersehen sein sollte. Ausgerechnet meine Oma entdeckte sie als erste, da wir natürlich in die falsche Richtung blickten, und schloss das fremde, ein wenig verdattert dreinschauende Mädchen freudestrahlend in die Arme. Auch die weitere Begrüßung verlief dann etwas verlegen.
»Hi, ich bin es. Und ähm, das da war meine Oma.« Caro überwand ihre Überraschung schnell und versuchte uns bei dem Versuch, nebeneinanderliegende Sitzplätze zu beschaffen, Unterstützung zu leisten. Doch trotz ihrer ja angeblich erforderlichen persönlichen Beteuerung, dass es tatsächlich in ihrem Interesse lag, neben mir zu sitzen, konnte die nette Dame am Schalter nicht mehr tun, als freundlich zu lächeln. Das ginge jetzt nicht mehr, das Flugzeug sei komplett ausgebucht.
Dafür musste ich wenigstens nicht einen zusätzlichen Cent für den zweiten Koffer bezahlen, von dem wir eigentlich erwartet hatten, eine Menge Geldstücke auf sein Gewissen laden zu müssen. Die Bestimmungen hatten sich geändert, in diesem Fall zum Guten. Amelies Reaktion konnte ich mir nur allzu lebhaft vorstellen, denn auch sie hatte nicht alles in einen Koffer bekommen und somit ein nicht gerade günstiges Paket aufgeben müssen, gefüllt mit Winterkleidung und adressiert an ihre Gastfamilie.
Irgendwann fiel uns ein, dass wir ja noch gar nichts gegessen hatten und natürlich begann meine Familie eine ausschweifende Suche nach dem deutschesten Restaurant im Flughafengebäude – das müsse vor dem Abflug doch noch einmal sein. Die gut gemeinten Schweinemedaillons mit Spätzle begeisterten mich aber eher mäßig, am Flughafen ging es wohl eher darum, schnell statt lecker zu essen.
Das taten wir auch, nur um uns danach zum allerletzten Mal auf Wiedersehen zu sagen. Und zu meiner Überraschung weinte als einziger mein Vater, ansonsten waren solche emotionalen Ausbrüche eher die Spezialität meiner Mutter und Oma. Ich war mehr als froh, als das ganze Verabschieden endlich hinter mir lag und ich zusammen mit Caro die Sicherheitsabsperrungen durchschreiten konnte.
Während wir im Wartebereich saßen, konnten wir aus den Gesprächen einzelner Mädchen heraushören, dass es sich bei diesen ebenfalls um Au Pairs handelte, und einige davon trugen tatsächlich die flügelverleihenden AP-T-Shirts. Wir verspürten aber keine allzu große Lust, uns ihnen anzuschließen, waren wir doch froh, jetzt einen seltenen Moment der Ruhe zu genießen. Und die meisten der Mädchen wirkten noch überdrehter und aufgeregter, als wir uns fühlten.
Im Flugzeug landete Caro zwei Reihen hinter und ein anderes Au Pair neben mir. Nun, da musste sich doch etwas machen lassen. Wir beschlossen unsere Unterhaltung miteinander ungeachtet des Abstandes weiterzuführen, und auf die fragenden Blicke des Mädchens neben mir erklärte ich ihr mehrmals, dass Caro eine sehr gute Freundin von mir sei. Die Taktik ging auf und meine arme Sitznachbarin bot schließlich genervt an, ihren Platz doch mit Caro zu tauschen. Das Ziel rechtfertige in diesem Fall die Mittel, hatten wir doch neun Stunden Flug vor uns, keinen Fernseher und nicht die Nerven, um in Ruhe etwas zu lesen. Da blieb nur das Gespräch.
Netterweise sorgte das amerikanische Ministerium für ein wenig lustige Abwechslung, in Form eines Fragebogens, den man während des Flugs ausfüllen musste. „Kennen sie sich mit Sprengstoff aus?“, „Waren sie schon einmal als Spion tätig?“, oder ganz direkt auf den Punkt gebracht: „Sind sie zurzeit Mitglied der Al Quaida?“ Ich schaute mit verstohlen um, wurde jedoch nicht Zeuge eines selbstmordgleichkommenden Ja-Kreuzes. Wie viele Verbrecher und Terroristen das Ministerium mit dem Fragebogen wohl schon hatte dingfest machen können?
Um viertel nach sieben New Yorker Zeit setzte unsere Maschine auf dem Landeplatz des John F. Kennedy-Flughafens auf und ich betrat zum ersten Mal in meinem Leben amerikanischen Boden.
Und schaffte es natürlich sofort, mich erst einmal mit dem Mann von der Visumskontrolle anzulegen. Anscheinend hatte ich einen Teil des Fragebogens vergessen auszufüllen, also schien tatsächlich ich diejenige mit offensichtlichen Selbstmordabsichten zu sein. Die Überlegung, ob ich denn nun mit terroristischen Intentionen einreiste oder nicht, hatte mich wohl zu stark abgelenkt. Das Ganze wäre ja nicht so tragisch gewesen, wenn der verstimmte Herr nicht so schlecht gelaunt vor sich hin genuschelt hätte, dass ich leider auch mit größter Mühe nicht mehr verstand als höchstens jedes dritte Wort. Nach einer Weile knallte er mir völlig entnervt das Formular hin, mit den Worten »Weißt du denn deinen eigenen Namen nicht?« Auch diese liebenswürdige Frage verstand ich ungünstigerweise erst nach mehrmaligem Nachfragen. Zumindest wusste ich dann, was ich vergessen hatte, auszufüllen.
Die hochgelobte Freundlichkeit der Amerikaner hatte ich mir doch ein wenig anders vorgestellt. Auch mit den elektronischen Fingerabdrücken war ich leicht überfordert, da ich meine Finger entweder zu hoch oder zu tief hielt und nicht fest genug aufdrückte. Ich dachte schon, dass der Officer mich wegen gefährlicher Dummheit nicht durchlassen würde, aber das Wunder geschah dann doch, wodurch die Kette an Peinlichkeiten für mich jedoch bedauerlicherweise noch nicht abriss.
Von meinen Koffern zum Zweikampf herausgefordert und nicht im Besitz eines Gepäckwagens, der Dollar gekostet hätte, die ich noch nicht besaß, schaffte ich es erstaunlich vielen Leuten im Weg zu stehen oder ihnen den kleineren Koffer vor die vorbei hastenden Füße fallen zu lassen, wenn er mal wieder vom größeren herabrutschte. Ich bekam eine Menge genervter und manchmal auch mitleidiger Blicke zugeworfen, aber so wirklich helfen wollte mir dann auch niemand. So schob ich mich wie ein lebendes Hindernis durch den geordneten Strom der anderen Flughafengäste bis hin zum erlösenden Ort der Zollkontrolle.
Der Mann dort stellte sich zwar als deutlich netter als der griesgrämige Passkontrolleur heraus, seine Aussprache war aber mindestens genauso schlimm und ich verstand noch weniger. Er erzählte mir irgendetwas von Koffern und Stehen, woraus ich schloss, er wolle, dass ich mich neben meinen Koffer stellte. Immerhin hatte man ja genügend über die strengen Sicherheitsvorkehrungen hier gehört, und vielleicht war es Vorschrift, dass ich neben den Koffern stand, während er sie genauer unter die Lupe nahm. Irgendwann dämmert es dann aber auch mir, dass er mir nur erklären wollte, wie ich meine Koffer schnellstmöglich wegtransportierte und so den Weg freimachen konnte für die immer länger werdende Schlange hinter mir.
Am liebsten hätte ich direkt den nächsten Flieger wieder nach Hause genommen, in den USA hatte ich mich in den ersten Minuten schon so ausgiebig blamiert, dass es für die nächsten Monate mehr als reichte. Doch ich stand auch das durch, versuchte im Gewühl Caro wiederzufinden und zusammen beschlossen wir, uns eine kleine Flasche Wasser zu gönnen, nach dem Flug waren wir halb verdurstet und fielen fast um, als wir den Preis hörten: 6 stolze Dollar! Damit entpuppte sich neben der Behauptung, dass hier alle Menschen unglaublich nett waren, auch die zweite Verheißung als nicht ganz glaubhaft. In Amerika war NICHT alles viel billiger. 200 Dollar die Woche erschienen auf einmal nur wie gnädige Brotkrumen – gerade genug, sich am Rande des finanziellen Ruins entlangzuhangeln.
Ein dicker, kahlköpfiger Mann, den die schwülen Außentemperaturen sichtlich zum Schwitzen gebracht hatten, hielt das sehnsüchtig erwartete Schild mit dem AP-Logo hoch. Nach und nach scharten sich alle Au Pairs um ihn und er hakte die Namen auf einer Liste ab. Nachdem er damit fertig war, grunzte er zufrieden und winkte uns in den bereitgestellten Privatbus, der uns zu der berüchtigten Trainingsschool bringen würde.
Trotz der Dunkelheit konnte ich einige erste Eindrücke von dem, zumindest in meinem Fall, Land der unbegrenzten Möglichkeiten zur Blamage, sammeln. Ein Dunkin’ Donuts reiht sich neben den anderen und ich wusste nicht, wie viele weitere Fast-Food-Imbisse sowie Tankstellen ich während der einstündigen Fahrt zählte. Die breiten Straßen wurden vorwiegend von großen Trucks oder Jeeps befahren, es war also alles ziemlich genau so, wie man es sich immer vorgestellt hatte.
Zumindest von außen bot die Trainingsschool ein sehr ansehnliches Bild. Sie bestand aus einem ganzen Gebäudekomplex, der sich mit prunkvollen weißen Säulen schmückte. Eine Reihe lächelnder Mädchen begrüßte uns und drückte jedem eine Flasche Wasser in die Hand. Hätte ich das mal früher gewusst. Dann würde jetzt nicht ein Großteil meines überschaubaren Vermögens in den Tiefen der Flughafenkasse schlummern.
Bettbezüge und Zimmerschlüssel wurden ausgehändigt – natürlich wurde ich nicht mit Caro oder Amelie einem gemeinsamen Zimmer zugewiesen, sondern tatsächlich dem Mädchen, das ursprünglich im Flugzeug neben mir gesessen hatte. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht nachtragend war. Die Zimmer entsprachen ungefähr dem, was ich mir vorgestellt hatte, sehr kleine und unbequeme Hochbetten bildeten das einzige Mobiliar, aber immerhin wirkte es einigermaßen sauber. Der Schock war allerdings groß, als wir feststellten, dass es für unser ganzes Haus nur zwei Badezimmer gab, von denen eins zu allem Überfluss auch noch gesperrt war. Wer sich jetzt versucht vorzustellen, wie es abläuft, wenn sich mehr als hundert Mädchen einen Waschraum teilen, sollte es besser bleiben lassen.
Obwohl alle nach dem Flug müde und erschöpft waren, hielt uns noch irgendein hochmotivierter Mitarbeiter Vorträge über die Regeln der Trainingsschool, den Ablauf des Unterrichts und den Aufbau des Gebäudekomplexes. Kaum jemand hörte wirklich zu, einige schliefen bereits ein. Heilfroh über die bevorstehende Nachtruhe schleppten wir uns schließlich in unsere Zimmer und zu den Betten. Meine dritte Zimmergenossin stellte sich als Brasilianerin heraus, die unablässig strahlte und gute Laune verbreitete. Sie hatte wohl nicht vergessen, ihren Namen auf den Fragebogen zu setzen.