Die Heiße Phase
Am Wochenende telefonierte ich noch einmal mit Courtney und sprach sogar kurz mit Henry und Lily. Ob es an der Verbindung lag, meinen ungeübten Ohren oder einfach an ihrer kindlichen und etwas undeutlichen Aussprache, ich verstand kaum etwas von dem, was sie erzählten, doch das machte nichts, sie klangen nett und ich würde das auch noch hinbekommen.
Was nun noch fehlte, waren vielleicht ein paar andere Au Pairs in der Nähe, mit denen man sich treffen und austauschen konnte – dann wäre wirklich alles perfekt. Und Courtney bewies geradezu hellseherische Fähigkeiten, als sie mir in ihrer nächsten Mail mitteilte, dass ganz in der Nähe ein anderes deutsches Mädchen namens Amelie arbeiten würde. Facebook sei Dank hatte ich sie schnell ausfindig gemacht und schickte ihr eine Nachricht, in der ich erzählte, wann ich in G. eintreffen würde und ob wir dann etwas zusammen unternehmen könnten, da uns als Au Pair ja auch einiges an Freizeit zustand. Amelie freute sich riesig, wie sie mir gleich zurückschrieb, bereits jetzt jemanden aus G. kennenzulernen.
Wir könnten sicher vieles zusammen unternehmen und ihre Älteste wäre etwa im selben Alter wie Lily, vielleicht waren sie sogar bereits befreundet. Gemeinsam freuten wir uns auf das Jahr und sangen wahre Lobeshymnen auf unsere Gastfamilien. Sie sollte sonst noch auf ein dreijähriges Mädchen und einen zehn Monate alten Jungen aufpassen, aber das sei kein Problem. Die Mutter würde nicht arbeiten und sich großteils um den Jüngsten kümmern. Außerdem seien die Kinder sowieso total lieb und süß, denn sie skypte jedes Wochenende mit der Familie und würde sie schon alle super gut kennen. Auch für ihre Familie war Amelie das erste Au Pair und wir waren allesamt unheimlich aufgeregt.
Eigentlich habe sie ja gar nicht nach Chicago, sondern nach Boston gewollt, aber die Gastfamilie wäre einfach Liebe auf den ersten Blick gewesen! Zudem gab es dort eines der besten Orchester der Welt, zu dem wir auch unbedingt mal gehen sollten. Sie dürfe das Auto ihrer Gastmutter benutzen und nach Chicago gäbe es ja sowieso eine direkte Bahnverbindung. Ich wiederum erzählte, dass ich eigentlich nach San Francisco gewollt hatte, die Familie aber letztlich viel wichtiger war als die Stadt und sich in mir nur gute Gefühle zu Wort meldeten, obwohl das Skypen bis jetzt leider noch nicht geklappt hatte. Auch Andrew schaffte es nicht, mich einmal anzurufen, was aber nur an seiner zeitraubenden Arbeit läge, wie Courtney mir mehrmals versicherte, denn er würde wirklich sehr gerne auch einmal mit mir sprechen.
Auch über unsere Pläne für den dreizehnten, den Reisemonat, sprach ich ausgiebig mit Amelie. Ich wollte ihn auf jeden Fall so ausgiebig wie nur irgendwie möglich nutzen, um mir alles anzusehen, was die USA zu bieten hatte: San Francisco, Las Vegas, Seattle, Hawaii, Kuba, Kanada, Washington D.C., Hollywood, L.A… und noch so viele andere Städte. Ich verstand mich auf Anhieb bestens mit Amelie und wahrscheinlich würden wir sogar zusammen fliegen und uns ein Zimmer in der Au-Pair-Traningsschool teilen können. Als Courtney davon erfuhr, telefonierte sie sogar mit Amelies Gastmutter, um den Kontakt auszubauen und teilte mir mit, dass sie diese „very lovely” fände, was ich natürlich direkt Amelie erzählen musste. Es wäre ein gewaltiger Vorteil für uns, wenn sich die beiden Gastmütter miteinander anfreundeten.
Damit ich wirklich mit Amelie fliegen konnte, rief ich noch in Berlin an und ließ meinen Abflughafen von Düsseldorf zu Frankfurt ändern, was auch reibungslos funktionierte. Von da an planten wir das Jahr zusammen. Wir würden gemeinsam mit den Kindern Playdates organisieren, regelmäßig in ein Fitnessstudio gehen, damit die sicherlich zahlreichen Starbucksbesuche dort nicht so ins Gewicht fielen, freuten uns auf Shoppingeskapaden und schick mit der Gastfamilie auszugehen oder zu verreisen. Ich schrieb ihr auch, dass ich nach einiger Zeit bestimmt gar nicht mehr nach Hause wollen würde, da ich sowieso nicht der Mensch war, der von Heimweh geplagt wurde.
Irgendwann kam Amelie auf die Idee, dass wir uns ja vorher einmal in Köln treffen könnten und so machten wir für Ende Juni einen Termin aus. Ich hörte leider immer wieder, dass Chicago ja recht unansehnlich sei, aber Amelie beruhigte mich mit den Worten, die in ihrem Reiseführer standen. Chicago sei zwar hässlich, aber immer noch viel schöner als New York.
Alle anderen Sachen, die für das Jahr noch zu erledigen waren, gingen unter dem Zeichen der Vorfreude leicht von der Hand. Da galt es zum Beispiel das Suchen einer Versicherung oder das Ausfüllen des Persönlichkeitstestes von AP erfolgreich zu erledigen. Und das Ergebnis dieses war eindeutig: Ich würde das reinste Power-Au-Pair werden. Um es kurz zusammenzufassen: Ich wäre sehr sozial orientiert und im Besitz einer starken Selbstmotivation, Menschen aus allen Gesellschaftsschichten kennenzulernen und diese Beziehungen aufrechtzuerhalten. Ein weites Netz an Beziehungen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten sei für mich kein Problem und ich verfüge zudem über einen großen Enthusiasmus für alle Arten von Ideen und Projekten, könne gut mit Druck umgehen und meine Mitmenschen würden mich als gesellig und optimistisch beschreiben. Meine Stärken wären meine Team- sowie Menschenbegabung, andere zu ermutigen und Spannung aus einer Situation zu nehmen. Ich solle aber darauf achten, mich nicht zu sehr in die Beziehung zu anderen Menschen zu vertiefen, sondern auch mal akzeptieren, dass es bei der Arbeit nicht immer um Menschen gehe und dass ich manchmal Gefahr laufe, ein wenig zu optimistisch und enthusiastisch zu sein.
Gut, dann konnte ja eigentlich nichts mehr schiefgehen. Ärztliche Untersuchung, polizeiliches Führungszeugnis und ein internationaler Führerschein waren ebenfalls schnell abgehakt. Einzig das Visum fehlte noch und der Termin dafür war für Mitte Juni festgesetzt – so langsam wurde es ernst. Wie ich schnell feststellen musste, konnte die Reise nach Amerika auch nicht viel abenteuerlicher werden, als der Weg zur Botschaft in Frankfurt. Erst ging es ein Stück mit dem Bus, dann mit einem Zug, dann mit einem anderen Zug und zum Schluss noch mit der U-Bahn dem Ziel entgegen. Anders als befürchtet erwartete mich zum Glück aber keine lange Schlange, ich musste lediglich durch die Sicherheitskontrollen und dann nur wenige Minuten warten.
Immerhin, ich hatte bisher auch noch keine Botschaft von innen gesehen. Die versprochenen neuen Erfahrungen stellten sich bereits ein. Ein gutgelaunter Mann prüfte meine Unterlagen und nahm meine Fingerabdrücke, bevor er mich dazu aufforderte, noch einen kurzen Moment zu warten, dann würden mir ein paar Fragen gestellt. Der Beamte war ausgesprochen freundlich und fragte lediglich, was ich den USA machen wolle, wie meine Gastfamilie so sei und was ich denn vorhabe, wenn mein Jahr zu Ende wäre. Alle meine Antworten kommentierte er ganz begeistert mit „very nice”, „interesting” oder „great”.
Ja, er hatte die berühmte Freundlichkeit der Amerikaner für sich gepachtet. Mein Visum wurde umgehend genehmigt und ich wieder nach Hause geschickt, wo sich so langsam das Schuljahr zu Ende neigte und die Abiturveranstaltungen in dem Maße zunahmen, wie die Unterrichtsstunden und auch meine Motivation für die Schule sanken.
Nach dem Abigag fand endlich mein Treffen mit Amelie in Köln statt. Ich holte sie vom Zug ab und wir setzten uns zusammen zu Starbucks, etwas, das wir in Amerika sicher noch oft tun würden. Wir verstanden uns tatsächlich auf Anhieb bestens und freuten uns gemeinsam auf das kommende Abenteuer. Es erschien alles so perfekt und es war unbezahlbar, schon im Vorhinein jemanden zu kennen, mit dem man sich verstand und zusammen Neues entdecken konnte.
Meine Zweifel darüber, ob ich die Erwartungen der Familie wirklich alle erfüllen konnten, wurden ein wenig dadurch genährt, dass Amelie durch das ständige Skypen ihre zukünftigen Gasteltern fast schon besser kannte als ihre eigenen, während ich immer noch nicht mit Andrew gesprochen hatte. Amelie fegte meine Zweifel aber lachend beiseite. Unsere amerikanischen Familien begannen ja bereits sich dank uns miteinander anzufreunden und ihre Gastmom wäre sogar schon in meinem zukünftigen Zuhause gewesen. Es sei »das schönste Haus, das sie jemals betreten habe«. Kein Wunder, Courtney war ja gelernte Innenarchitektin. Außerdem habe sie Courtney wohl bei der Wahl eines Geschenks für mich beraten, das laut Amelie ganz großartig sei und ich war wirklich mehr als gespannt, wann ich es bekommen und was es sein würde. G. sei übrigens auch noch bekannt dafür, dass dort überdurchschnittlich viele männliche Au Pairs, vorwiegend aus Schweden, arbeiten würden. Diese sahen ja bekanntermaßen nicht allzu schlecht aus.
Wir versprachen uns gegenseitig, jeden Tag etwas miteinander zu unternehmen, und sei es bloß einen Kaffee zu trinken oder etwas zu backen. Ich konnte es wirklich kaum noch abwarten, mit ihr Amerika zu erkunden und dem grauen Alltag in Deutschland zu entfliehen.
Nach der Entlassfeier und dem Abiball reiste ich für drei Wochen mit einer Freundin durch Italien, um den Abschluss zu feiern, und danach holte mich der Amerikastress wieder ein. Obwohl ich alles Erdenkliche getan hatte, von sämtlichen administrativen Pflichten bis hin zum Auswendiglernen des Chicago-Reiseführers, fühlte ich mich irgendwie mehr als unvorbereitet. Ich hatte sogar an eine Webcam, um mit meiner Familie zu Hause in Kontakt zu bleiben, gedacht und mir den größten Koffer gegönnt, der sich auftreiben ließ. Den ich nebenbei bemerkt später wieder umtauschte, denn was brachte es einem, einen Koffer zu besitzen, in dem noch zwei Mitreisende Platz gehabt hätten, wenn man nur 23 Kilo mitnehmen durfte?
Vielleicht konnte man sich auf so eine Reise gar nicht wirklich vorbereiten. Egal wie viel man unternahm, fühlte man sich jemals wirklich bereit, ein neues Leben zu beginnen?
Ein paar Tage später, Ende Juli, kam es bereits zu einer unangenehmen Überraschung. Geflissentlich die Tatsache ignorierend, dass Amelie und ich vom selben Ort zum selben Ziel am selben Tag fliegen würden, hatte die Agentur uns unterschiedliche Flüge zugewiesen. Sie würde früher ankommen als ich, und dafür hatte ich extra noch den Abflughafen ändern lassen! Aber was half es, darüber zu jammern? Courtney schrieb direkt, dass ihr das sehr leid für mich täte, aber ich solle mir keine Sorgen machen, sie würden mich direkt an der Gepäckausgabe abholen kommen. Auch hatte ich ihr erzählt, wie viele Fotos ich in Italien geschossen hatte, woraufhin sie ganz begeistert antworte, ich wäre sicher eine wunderbare Fotografin und es wäre so schön, wenn ich gute Bilder von Henry und Lily machen würde. Immerhin: Meine Überzeugung, die richtige Familie gefunden zu haben, nahm von Tag zu Tag und mit jeder geschickten Mail mehr zu.
Ich schaffte es letztlich sogar doch, nicht alleine fliegen zu müssen, indem ich mithilfe des größten sozialen Netzwerks dieses Planeten, Facebook, noch ein anderes Au Pair fand, das zeitgleich mit uns in der Nähe von Chicago arbeiten würde. Sie hieß Caro, würde sich nur um ein fünfjähriges Mädchen kümmern und deswegen voraussichtlich nie mehr als sechs Stunden am Tag arbeiten. Die Familie hatte vorher wohl nur Nannys aus Polen und Litauen beschäftigt, sie sei jetzt das erste Au Pair und habe vor allem Angst davor, dass das Mädchen sie nicht annehmen würde. So hatten wir alle unsere Sorgen und Befürchtungen als junge Mädchen, die bald für das Wohl von fremden Kindern zuständig sein würden.
Eigentlich blieb jetzt nur noch das Besorgen von Geschenken für die Gastfamilie. Mit meiner Mutter machte ich mich auf die Suche und gab direkt mein zukünftiges Wochengehalt aus, da ich unbedingt so viel wie möglich von den Sachen, die im Handbuch vorgeschlagen wurden, mitbringen wollte. Allesamt Mitbringsel, die sowohl typisch deutsch als auch originell sein sollten. Für die Gasteltern holte ich das Kochbuch: „German Cooking Today” und den Bildband: „Journey Through Germany”, für die Kinder Haribo, Kinderschokolade und Yoguretten, eine große Spielesammlung, CDs mit den schönsten deutschen Kinderliedern, Müslischalen mit dem Dom, Tinti-Badekugeln, und dann für Lily eine Schneekugel mit Lillifee, ein Lilifee-Tagebuch, Schreibpapier, sowie Sticker und für Henry eine Schneekugel mit dem 1. FC-Köln-Maskottchen, einen Playmobil-Fußballer und eine Cappy mit der Deutschlandflagge. Ich wollte, dass alles perfekt war und die Familie einen guten ersten Eindruck von mir bekam.
Weil wir für die Zeit in der Au Pair Schule einen kleinen Handgepäckkoffer packen sollten, da das große Gepäck in einen separaten Raum gesperrt würde, holte ich mir noch kleine Reisetuben Zahnpasta, Shampoo und andere Pflegeprodukte.
Mit Caro blieb ich in Kontakt und konnte mir im Internet Fotos von ihrem zukünftigen Zuhause angucken, das palastartige Züge aufwies. Da sie aber leider vierzig Minuten von mir entfernt wohnen würde, planten wir uns mehr in Chicago als in den Häusern zu treffen. Genauso wie ich wollte auch sie den dreizehnten Reisemonat ausnutzen, da sich einiges an Gehalt ansammeln würde und das wollte ja auch ausgegeben werden. Ich schrieb, dass es komisch sein würde wieder minderjährig zu sein, aber wer weiß, vielleicht würden wir es ja auch schaffen, zu einer der berüchtigten geheimen Collegepartys eingeladen zu werden. Davon hatte ja auch schon Sara beim Preparation-Workshop geschwärmt.
Obwohl ich keine Aufregung verspürte, konnte ich die Tage vor der Abreise immer schlechter schlafen, irgendwann fing ich sogar an Tabletten zu nehmen, weil ich sonst die ganze Nacht wachgelegen hätte. Die Vorfreude nahm auch immer mehr ab und meine Angst, mit der Gastfamilie nicht klarzukommen, wurde von Tag zu Tag größer, obwohl ich mich davon zu überzeugen versuchte, dass es einfach nur gut werden konnte und man allein schon von dem vielen Geld, für das man noch nicht einmal hart arbeiten musste, eine Menge erleben würde. Ich sollte ja bloß den Kindern bei den Hausaufgaben helfen, Wäsche waschen, aufräumen und dann mit ihnen spielen, bis es um 19 Uhr Essen gab. Die Wochenenden würden frei sein, bis auf ein paar Stunden abends und so hätte ich genug Zeit das amerikanische Leben auszukosten. Bei YouTube fand ich auch immer wieder Videos von Au Pairs, die Fotos von dem Jahr ihres Lebens zeigten, was mich wieder ermutigte, dem Ganzen optimistisch entgegenzublicken.
Caro beschloss extra für das Au-Pair-Dasein, mit dem Rauchen aufzuhören und wurde ebenfalls immer hibbeliger. Wir beruhigten uns gegenseitig, wenn irgendwas total schieflief, konnte man ja auch die Familie wechseln und ansonsten könnten wir uns einfach zusammensetzen und über das, was auch immer es sein mochte, lachen. Nun mussten wir es nur noch schaffen, uns am Flughafen zu finden. Gut, es gab dafür ein von Au Pairs eigens entworfenes T-Shirt mit dem kreativen Spruch: „AP verleiht Flügel“, doch hatten wir beide nicht vor, mit einem dicken Red-Bull-Logo (welches unter dem Spruch) prangte, in Amerika zu landen. Um uns schnell zu erkennen, tauschten wir einfach Fotos aus.
Ein paar Tage vor der Abreise fand noch meine Abschiedsfeier statt und mir wurde wieder bewusst, wie froh ich war nicht, wie die meisten ein FSJ oder eine Ausbildung zu beginnen, sondern etwas wirklich Aufregendes erleben zu dürfen. Auch viele von Caros Freundinnen waren neidisch auf die tolle Zeit, die ihr bevorstehen würde. Vielleicht würde auch ich nach meiner Rückkehr auf der Homepage berichten können, was für ein wunderbares Jahr mir vergönnt gewesen war. Ich würde schwärmen und der Agentur in höchsten Tönen danken. Die Zeit meines Lebens war zum Greifen nah.
Doch erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.