Die Traumfamilie
Zeit für Enttäuschung blieb allerdings tatsächlich nicht, denn in meinem Account wartete schon das nächste Match auf mich: Die Familie lebte in einem Vorort von Chicago, namens G.. Der Gastvater managte Finanzen bei einer großen Handelsfirma, die Mutter war eigentlich gelernte Innenarchitektin, aber arbeitete zurzeit nicht, sondern kümmerte sich um die Kinder: Zwillinge, namens Lily und Henry, sechs Jahre alt.
Meine Mutter fand es zwar äußerst merkwürdig, dass eine Frau, die nicht arbeitete und nur zwei Kinder hatte, ein Au Pair brauchte, aber für mich klang es einfach so, als würde sie nur eine helfende Hand suchen. Dementsprechend moderat waren auch die Arbeitszeiten. Unter der Woche würde ich von 15 bis 20 Uhr arbeiten und am Wochenende nur ab und zu ein paar Stunden abends. Einzig ein wenig erschreckend fand ich den umfangreichen Katalog an Charaktereigenschaften, den ich mitzubringen hatte. Das Au Pair sollte: Ehrlich, verlässlich, geduldig, freundlich, kreativ, intelligent, karrierebewusst (?!), humorvoll, selbstbewusst, respektvoll, besonnen, rücksichtsvoll, enthusiastisch im Umgang mit Kindern, organisiert sowie sauber sein.
Aber das klang vielleicht nach mehr, als dann wirklich erwartet wurde – zumindest hoffte ich das. Vor allem an Karriere- und Selbstbewusstsein mangelte es mir. Gut wiederum war, dass ich das erste Au Pair der Familie sein würde. Das hieß, die Familie würde sich sicher noch viel Mühe geben und man stand nicht ständig im Vergleich zu seinen Vorgängerinnen. Dass es aber auch bedeutete, niemanden fragen zu können, wie die Familie denn so war, wurde mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst.
Aus reiner Neugier googelte ich umgehend die Adresse, und laut Internet hatten meine Gasteltern Andrew und Courtney das Haus zu stolzen 1,6 Millionen Dollar erworben. G. lag in der Nähe von Chicago und galt als eine der reichsten Gegenden Amerikas, in der sich Villa an Villa reihte, nur unterbrochen von malerisch grünen Parks. Nun, das klang doch verheißungsvoll, es versprach zumindest etwas anderes zu sein, als das Dorf, aus dem ich stammte und in dem sich bloß ein eintöniges Reihenhaus an das andere schmiegte. Der einzige Park war ein heruntergekommener Spielplatz, auf dem der Drogenhandel der Dorfjugend florierte.
Kurz darauf traf bereits eine Mail von Courtney ein. Sie habe eigentlich vorgehabt, mich direkt anzurufen, aber die Telefonverbindung sei kurzfristig einem Sturm zum Opfer gefallen. Sie würde es aber in Bälde noch einmal probieren, und bis dahin würde sie die komplette Bewerbung der Gastfamilie hochladen, sodass ich mir die Fotos ansehen könne. Es war eine perfekte Bilderbuchfamilie: Gasteltern, die laut Einschätzung meiner Oma eher wie Filmstars aussahen – Andrew erinnere sie an George Clooney – und bildhübsche adrette Kinder, alle strahlten sie in teurere Abendkleidung in die Kamera. Die Familie schien bestrebt zu sein, jede Vorstellung, die man als mittelständisches Mädchen vom glamourösen Leben der High Society hatte, genauso zu erfüllen.
Ein kleiner, in die Jahre gekommener Hund vervollständigte das Glück. Die Familie war äußerst gebildet, mochte Sport sowie Bücher. Courtney kochte nicht gerne, weswegen sie oft essen gingen oder etwas beim Feinkostgeschäft holten. Das sollte mir nur recht sein. Im ersten Stock des Hauses gab es vier Schlafzimmer und drei Bäder, im Erdgeschoss ein Esszimmer, Wohnzimmer, Familienzimmer, Küche, Vorratskammer und ein Ankleidezimmer. Im Keller befand sich das Gästezimmer, das deutlich größer war als mein jetziges, ein eigenes Bad, eine Waschküche, zwei Spielzimmer, ein Fernsehzimmer sowie ein Fitnessraum. Das Ganze klang wie der Gestalt gewordene Traum eines jeden Au Pairs: Nette Eltern, niedliche Kinder, eine eigene Etage in einem wunderschönen Haus ganz für mich allein und dann das Tüpfelchen auf dem i: Chicago.
Was andere prophezeit hatten, schien sich zu bewahrheiten, das Traum-Match fand man erst nach mehreren Versuchen. Diesmal wollte ich unbedingt, dass sich die Familie für mich entschied und musste vor dem ersten Telefonat mehrere Tassen Bachblüten Tee zu mir nehmen. Es durfte nichts schiefgehen! Fieberhaft verfasste ich einen kleinen Roman an Fragen und Stichworten für das Gespräch und lauerte nervös auf das Klingeln des Telefons. Es ertönte pünktlich um Punkt vier Uhr deutscher Ortszeit, genau wie von Courtney angekündigt, ganz so, als gäbe es keine Zeitumstellung, die man zu beachten hätte. Mein Herzschlag näherte sich dem Infarktrisiko, als ich zitternd nach dem Hörer griff.
Doch das Gespräch lief sehr gut. Courtney klang freundlich und lachte oft, sie erzählte, dass es viele Au Pairs in der Nachbarschaft gäbe und sie auch schon immer eins hatten haben wollen, aber anfangs dachten, das ginge nicht, weil sie kein Auto zur Verfügung stellen konnten (in die Garage passten nur zwei und in G. war es nicht erlaubt, eins auf der Straße stehen zu haben). Als sie dann erfuhren, dass ein Auto keine Voraussetzung war, hatten sie sich sofort angemeldet und wären hocherfreut, mich gefunden zu haben. Wir gingen irgendwann zu Smalltalk über, ich erzählte von meinen Hobbys und meinen Verwandten in Kanada, bis sie auflegen musste, da Henry und Lily nach ihrer Aufmerksamkeit verlangten.
Das Gespräch überzeugte mich endgültig davon, auf das perfekte Match gestoßen zu sein. Ich hatte meine passende Familie gefunden! Jetzt musste sie mich nur noch wollen…
Courtney und ich schrieben weiterhin ausführlich und regelmäßig Mails, Futter für meine Hoffnung, dass sie sich für mich entscheiden würden. Meine vielen Fragen trafen auf eine positive Resonanz, Courtney war erfreut über mein Interesse und die Mühe, die ich mir gab, alles Wissenswerte zu erfahren.
In ihrer Bewerbung hieß es, dass sie und Andrew, zwei bis dreimal im Jahr die Stadt verließen, um ein wenig Zeit für sich zu haben. Courtney versicherte mir aber, dass sie nie länger als zwei Nächte fort wären, und da man als Au Pair nur zehn Stunden am Stück arbeiten durfte, abends ein zusätzlicher Babysitter vorbeikommen würde. »Zu Familienreisen bist du herzlich eingeladen, genauso wie zu den allsonntäglichen Kirchenbesuchen, die aber natürlich keine Pflicht für dich sind. Es wäre nur großartig, wenn du die Kinder dazu motivierst. Sie weinen oft und wollen nicht in die Kirche. Aber ansonsten hast du sonntags frei.«
Besonders wichtig sei es, dass ich Energie habe, die Art der Eltern und deren Umgang mit den Kindern respektiere sowie geduldig, nett, kreativ und motiviert wäre. Partys im Haus seien nicht erwünscht, aber ich dürfe gerne ein paar Freunde zu Besuch haben und mit ihnen im Keller DVDs schauen. Sie würden dafür sorgen, dass ich zum College gehen könnte und mich notfalls sogar zur Bahn fahren. Freitagabends würden sie meistens essen gehen, ansonsten gäbe es viele sportliche Aktivitäten oder sie würden mit den Kindern Sachen in der Stadt unternehmen. In der Umgebung des Hauses gab es mit sechs Spielplätzen genug Abwechslung. Da AP vorschlug, das Au Pair solle zehn Stunden vor Beginn der Arbeitszeit wieder zu Hause sein, fände sie eine Ausgangsbeschränkung ab Mitternacht angebracht. »Aber wenn du mir genau mitteilst, mit wem du dich wo triffst, können wir das sehr gerne noch einmal lockern.«
Auch beschrieb sie den Vorort G., der am Lake Michigan lag und somit über einen Strand verfügte, sowie Coffee-Shops, Restaurants, Banken, einen Lebensmittelladen und ein Frauenschuhladen mit Marken wie Prada und Armani. Gut zu wissen, dass ich auf meine Lieblingsdesigner also nicht verzichten musste. Um G. herum fanden sich noch mehr Restaurants, Malls sowie die Botanic Gardens. Chicago selbst bot als die drittgrößte Stadt der USA viele kulturelle Möglichkeiten.
Im Gegenzug wurden auch einige Fragen an mich gestellt. Ob ich Alkohol trinke und wenn ja, welche Arten und wie viel, ob ich einen Freund habe, wie lange ich normalerweise mit Freunden ausgehe, da in G. abends nicht viel los sei, was ich gerne esse, was ich gerne koche, ob ich mich selbst als sauber und ordentlich sehe, ob ich die Küche aufgeräumt mag, was ich mit den Kindern an einem verregneten Tag machen würde, welche Charaktereigenschaften ich an meinen Freunden für wichtig erachte, wie meine Freunde mich beschreiben würden, was ich normalerweise während der ersten zwei Tage einer Reise mache, welche Collegekurse ich gerne belegen und wie ich damit umgehen würde, wenn die Kinder miteinander stritten. Über die meisten Fragen hatte ich mir vorher noch nie Gedanken gemacht. Wie beschrieben mich wohl meine Freunde?
Ich nahm mir viel Zeit, ihre Fragen ausführlich zu beantworten, aber da ich bald meine mündliche Abiturprüfung bevorstand, war diese leider begrenzt. Courtney zeigte sich aber sehr verständnisvoll und schrieb, dass sie mich auf keinen Fall vom Lernen abhalten wolle.
Doch ich tat alles, um den Kontakt nicht abreißen zu lassen und suchte weiterhin das Gespräch. Ich erfuhr, dass Andrew gerade aufgrund einer Geschäftsreise in Köln war und die Architektur sehr schön und das Schnitzel lecker fände. Henry höre gerne die Beatles, lese Harry Potter und wünschte sich, er dürfe schon Indiana Jones und Ghostbusters gucken. Lily möge High School Musical, Feen und Cupcakes. Es wäre wundervoll, wenn ich mit ihr backen und Desserts kreieren könne. Außerdem höre Lily gerne Bob Dylan und The Cure. Nicht schlecht für ein gerade einmal sechsjähriges Mädchen. Andrew höre bevorzugt Indie Musik und sie Phoenix, Depeche Mode, New Order und The Smiths. Ihr Lieblingsbuch wäre The Help und auch den Film „Little Miss Sunshine” hätte sie sehr gemocht.
Margaret, eine Freundin von ihr, sammle gerade sehr gute Erfahrungen mit ihrem ersten Au Pair aus Deutschland, aber viele andere Frauen müssten sich mit irgendwelchen Partygirls herumschlagen, die die ganze Nacht nur tranken und mit zahlreichen Männern schliefen, etwas, das sie sehr nervös machen würde. Hätte sie nur einen Tag Zeuge meines nicht vorhandenen Erfolgs beim anderen Geschlecht sein können, hätte sie wahrscheinlich über sich selber gelacht.
Mit den Kindern wären sie bis jetzt nur in Minneapolis, Boston, Massachusetts sowie Phoenix gewesen, weswegen sie das Reisen sehr vermisse. Sie selber hatte für eine Zeit bei einer Gastfamilie in Italien gelebt und liebe Europa, genauso wie Kalifornien. Andrew möge New York und im Juni würden sie alle Urlaub in Disney World in Orlando machen. In der Highschool hatte sie vier Jahre lang Deutsch gelernt, doch aufgrund der niedrigen Erwartungen des Lehrers und des geringen Leistungsniveaus befände sie sich leider noch auf dem Sprachlevel einer Dreijährigen, was ihr sehr leidtäte.
Sie schrieb durchgehend nett und ausführlich, mit beeindruckend hoher Smiley-Dichte, was ihre Mails freundlich und erstaunlich jugendlich wirken ließ. Hatte ich schon erwähnt, dass das meine absolute Traumfamilie war?
Nach vielen hin und hergeschickten Bytes an Informationen und Fragen folgte endlich ein weiterer Schritt zur Verwirklichung meines Traumes. Sie habe den Eindruck, dass ich sehr gut zu ihrer Familie passen würde, und es wäre nett, wenn wir doch noch einmal miteinander telefonierten würden. Mein Euphorieempfinden hätte nicht mehr gesteigert werden können.
Eine neue Mail von AP, die ausgerechnet am Tag meiner mündlichen Abiturprüfung in Geschichte eintraf, ließ den Glücksballon allerdings mit einem lauten Krachen zerplatzen. Das fröhlich blinkende Symbol über meinem Account teilte mir mit, dass ich ein neues Matchangebot bekommen hatte. Was wiederum bedeute, Andrew und Courtney mussten mich letztlich doch abgelehnt haben. Ich fiel aus allen Wolken, da doch alle Zeichen so gut gestanden hatten!
Völlig perplex öffnete ich das neue Match und meine Laune beschleunigte ihren Fall nach unten, mit jeder Zeile, die ich zu lesen bekam. Die neue Gastmutter war Professorin an einer Uni und hatte schon mehrere Bücher über Feminismus und Sicherheitsstudien geschrieben. Sie stammte aus Deutschland, weshalb ich mit den beiden Mädchen (zwei und fünf, also in dem gar nicht von mir gewünschten Altersbereich) Deutsch reden sollte. Soviel zur Verbesserung meines Englisches und des amerikanischen Way of Life. Der Mann war Highschoollehrer und kam aus Liberia. Arbeiten müsste ich von 7 bis 16 Uhr, aber im Haus gäbe es kein TV, denn Fernsehen wäre schädlich, ebenso wie zu viel Spielzeug und überhaupt alles, was die Kinder ablenken könnte! Die Älteste ging auf eine Waldorfschule und die Lehren von dort würden auch zu Hause strikt umgesetzt werden. Wichtig wäre also vor allem mein Einfallsreichtum, ich sollte basteln, musizieren und überhaupt äußerst kreativ sein, um einen guten Einfluss auf die Kinder auszuüben. Ob es mir denn passen würde, wenn sie am Wochenende kurz anriefen?
Ich war leider alles andere als ein Experte in Sachen Waldorf-Erziehung, doch in meiner Fantasie sah ich mich bereits singend und tanzend durch das Haus einer äußerst strikten Uniprofessorin wirbeln. Nein, das war so gar nicht, was ich gesucht hatte. Enttäuscht schrieb ich Courtney eine Mail, dass ich ihre Entscheidung sehr bedauere und warum sie mich denn hätten herausnehmen lassen. Als wäre das alles nicht schon genug, musste ich den Computer ausschalten und mich auf den Weg zu meiner Prüfung machen. Ich war nicht gerade in der besten Stimmung, um über die Kriege und Revolutionen zu referieren, fühlte ich mich doch bereits so, als würde das Fallbeil der Guillotine über mir schweben.
Irgendwie überstand ich das Ganze dann aber doch noch und erlebte neben dem Bestehen mit Bestnote noch eine zweite positive Überraschung. Bei meiner Rückkehr erwartete mich eine Mail von Courtney. AP habe einen Fehler gemacht: Sie hatten mich nicht herausnehmen, sondern ganz im Gegenteil, einstellen lassen wollen! Sie hatten sich tatsächlich für mich als Au Pair entschieden. Courtney entschuldigte sich mehrmals für die Verwirrung und versprach, sofort beim Programmdirektor anzurufen, damit der Fehler rückgängig und ihre Entscheidung offiziell gemacht wurde. Alle wären schon sehr gespannt darauf, mich kennenzulernen.
Ich hatte es geschafft.
Bewerbung schreiben? Abgehakt.
Traummatch finden? Abgehakt.
Von der Traumfamilie ausgewählt werden? Abgehakt.
Ich hätte nicht glücklicher sein können! Wenn ich doch nur morgen schon hätte fliegen könnte, um mein neues Leben zu beginnen. Kurz darauf trudelte dann auch die Bestätigungsmail von AP ein, dass die Familie mich am 20. August erwarte. Ich hüpfte durch das ganze Haus und erzählte jedem, der es hören wollte und auch jedem, der nicht, von meinem Glück.