Die Vorbereitungen
Da eine der Voraussetzungen die zweihundert Kinderbetreuungsstunden waren, beschloss ich mir sofort eine Familie zu suchen, bei der ich babysitten konnte. Zwar zählten auch Stunden, die man zum Beispiel auf jüngere Geschwister aufgepasst hatte, und mit drei jüngeren Geschwistern sahen meine Karten sehr gut aus, aber ich dachte mir, eine zusätzliche Referenz würde sich sicher nicht schlecht machen. Mein Ziel war es nicht nur irgendeine Bewerbung anzufertigen, ich wollte sämtliche Register meines Könnens ziehen, da dies die Chancen auf meine Traumfamilie um einiges erhöhte. Hoch motiviert druckte ich Zettel mit meiner Telefonnummer aus, die ich auf die schwarzen Bretter sämtlicher Kindergärten und Kleinkinderbetreuungsgruppen pinnte.
Meine Hochstimmung verflog allerdings recht schnell, denn es kam wochenlang keine einzige Rückmeldung. Ich wollte die Hoffnung auf meine zusätzliche Referenz schon fast aufgeben, da meldete sich zum Glück doch noch eine Familie. Die Eltern wollten mich in einem persönlichen Gespräch erst einmal kennenlernen und so kam ich abends bei ihnen vorbei. Die Mutter wirkte, als würde sie wesentlich mehr Zeit auf das äußere Erscheinungsbild ihres Hauses als auf ihr eigenes legen. Ihr vierjähriger Engel von einem Sohn ließ auch sofort völlig unbedarft verlauten, sie sei hässlich und würde stinken, was die Gesprächsatmosphäre anfangs minimal belastete. Weder der Vater noch ich wussten, wohin wir schauen sollten und ließen unsere Blicke angestrengt durch das Zimmer wandern. Trotzdem verlief alles gut, die Eltern fanden mich nett und meinten, ich solle doch bald mal für ein paar Probestunden nachmittags vorbeikommen.
Das tat ich dann auch. Die Mutter traute mir allerdings offensichtlich noch nicht zu, alleine auf den Jungen aufzupassen, also saß sie die meiste Zeit mit im Zimmer, was ein wenig irritierend war, aber nicht weiter schlimm, da der Kleine mich weder als hässlich noch stinkend empfand und sich mir gegenüber immer sehr lieb verhielt. Wir konnten stundenlang mit seinem Spielzeug spielen, er ließ sich von mir vorlesen und malte im Gegenzug Bilder für mich.
Wenn die neunjährige Tochter auch noch zu Hause war, gingen wir in den Garten oder spielten Pantomime. Ich hatte den Fehler begangen, einmal damit anzufangen, und hatte helle Begeisterung ausgelöst, die so weit reichte, dass sie kaum noch etwas anders spielen wollten. Alles in allem war es ein sehr angenehmer Job, der mich in der Überzeugung bekräftigte, der Weg des Au Pairs sei ohne Zweifel für mich der richtige. Wenn das Jahr in Amerika auch nur halb so reibungslos ablief, konnte ich mir nicht vorstellen, meine Entscheidung jemals bereuen zu müssen.
Gut, ab und zu, platze die Mutter in die Spielstunden oder verwickelte mich in sorgenschwere Gespräche, um mir ihr geplagtes Hausfrauenherz auszuschütten, doch ich hörte aufmerksam zu, nickte ganz verständnisvoll und stimmte an den richtigen Stellen in ihr tiefes Seufzen mit ein. Nach einiger Zeit vertrauten mir die Eltern endlich so weit, dass ich abends alleine auf die Kinder aufpassen durfte, was noch unbeschwerter verlief, da sie Filme schauen durften. Wir sahen zusammen Toy Story, futterten Süßes und waren allesamt sehr zufrieden.
Obwohl ich nicht sonderlich oft zum Babysitten kam, da entweder ich keine Zeit hatte oder der Junge, der offenbar über nicht sehr stark ausgeprägte Abwehrkräfte verfügte, von einer der zahlreichen grassierenden Kinderkrankheiten befallen war, füllte die Mutter mir die Kinderbetreuungsreferenz aus, die ein Teil der Bewerbungsunterlagen von AP war. Auch entwickelte sie eine regelrechte Passion, als es um Fotos von mir und den Kindern für die ebenfalls verlangte Collage ging. Aus jedem nur denkbaren Winkel wurden wir beim Spielen und Bücherlesen fotografiert. Mit einem beeindruckenden Ehrgeiz schien die Mutter das Ziel zu verfolgen, Bilder zu schießen, die denen auf der Homepage APs in nichts nachstanden. Mein Dasein als verständnisvolle Zuhörerin hatte sich also mehr als gelohnt.
Die restlichen Bewerbungsunterlagen stellten sich als recht umfangreich heraus und die Versuche, sie aufs Möglichste ansprechend zu gestalten, verschlangen mehr von meiner Zeit als selbst die nervenaufreibendsten Schulklausuren. Außer allgemeinen Angaben wie Adresse, Informationen über die eigene Familie, Schulausbildung, Kindererfahrung, Religion, bestimmtes Essverhalten und Hobbys, musste man auch die eigene Ansicht zur richtigen Kindererziehung beschreiben, was mir einiges an Kopfzerbrechen bereitete. Ich las mir sorgfältig mehrere Artikel zu dem Thema durch, um etwas halbwegs Kluges schreiben zu können, schließlich hatte ich mich noch nie wirklich mit dem Thema, wie man Kinder am besten aufzog, beschäftigt. Auch die Frage, warum die Familie einen als Au Pair wählen sollte, war nicht gerade einfach zu beantworten, da es mir doch ein wenig unangenehm war mich selbst in höchsten Tönen zu loben, aber die meisten Au Pairs zählten wohl immer die gleichen Eigenschaften wie Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Ehrlichkeit sowie Kreativität auf.
Für den persönlichen Brief an die Gastfamilie brauchte ich gleich mehrere Tage und durchforstete ebenfalls das Internet, um herauszufinden, wie das Ergebnis bei den anderen Au Pairs wohl aussah. Am Ende hatte ich die drei Seiten, auf denen ich mich und mein Leben beschrieb, sogar noch mit Zeichnungen verschönert, um meine gepriesene Kreativität gleich unter Beweis zu stellen. Am meisten Arbeit erforderte aber die Collage, die bei mir ganze fünfzehn Seiten füllte, und mit Stickern, Zeichnungen, Glitzer und allem, was mir sonst noch in die Hände kam, reichlich verziert wurde und mich entweder mit Kindern, meiner Familie oder mit Freunden auf Reisen zeigte.
Meine Mutter stellte irgendwann, wie ich zugeben muss, wohl zu Recht fest, dass wenn ich auch nur halb so viel Mühe in die Schule stecken würde, ich locker zu den Besten gehören könnte. Doch ich wollte ja kein Einser-Abitur, ich wollte nach Amerika!
Bald darauf begann endlich die nächste Phase, die mich meinem Traum ein Stück näher brachte. Mitte Januar fand ein Vorbereitungstreffen in einem Hotel in Bonn statt, zu dem ich eine Freundin von meiner Schule mitnahm. Ich hatte sie mit meinen ganzen Schwärmereien angesteckt und nun fieberte auch sie den Verheißungen eines Au-Pair-Jahres entgegen. Im Konferenzraum warteten nur noch fünf andere Mädchen, zwei mit ihren Müttern. Die Betreuerin, eine sehr nett wirkende Studentin, gab uns die Hand und bat uns, Platz zu nehmen. Während sie anfing zu erzählen, nahm ich mir ein wenig Zeit, die anderen Interessenten zu beobachten. Ob es an meiner eigenen Euphorie, die mich ohne Unterbrechung strahlen ließ, lag oder nicht, aber ich fand, die meisten sahen ganz und gar nicht wie Muster-Au-Pairs aus. Eher so, als wäre dieses Jahr ihr letzter Ausweg, um nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Deswegen hatten es die Mütter sich wahrscheinlich nicht nehmen lassen, dem Workshop beizuwohnen, um sicherzustellen, dass ihre Töchter diese Chance auch ergriffen. Einerseits freute ich mich insgeheim, bei solchen Mitbewerberinnen hatte ich umso größere Chancen auf eine gute Familie, anderseits hätte ich mir vielleicht gar nicht so viel Mühe geben müssen.
Anna-Lena, die Betreuerin, betonte, dass inzwischen nur noch Nichtraucher ins Programm aufgenommen würden, man möglichst keine Tattoos oder Piercings haben sollte und auch Nackt-, Bikini- oder Partyfotos mit Alkohol sich nicht sonderlich gut auf der Bewerbung machten. Als einige darüber anfingen zu lachen, meinte sie, ob wir es glauben würden oder nicht, das sei alles schon vorgekommen. Nacktfotos überzeugten vielleicht den Gastvater, die Gastmütter würden sich jedoch eher unbeeindruckt zeigen. Anna-Lena ließ es sich natürlich auch nicht nehmen, in höchsten Tönen von ihrer Au-Pair-Zeit und ihrer zauberhaften Gastfamilie zu schwärmen, die sie immer unterstützt und wie eine weitere Tochter aufgenommen hätte. Sie habe nun ein zweites Zuhause, zu dem sie immer wieder zurückkehren könne.
Ein weiterer Vorteil des Au-Pair-Jobs sei der wahre Geldregen. »Auf Weihnachten könnt ihr euch schon einmal freuen, ich habe noch nie in meinem Leben so viel geschenkt bekommen! Es gab eine Decke, Kleidung, Schmuck und zur Krönung des Ganzen einen iPod. Als ich nach Deutschland zurückgekommen bin, war ich natürlich erst einmal reich. Obwohl ich ein sehr angenehmes Leben in den USA geführt habe, konnte ich immer einiges zurücklegen, denn immerhin verdient man in dem gesamten Jahr fast zehntausend Dollar! Außerdem hat mich meine Familie oft zum Essen eingeladen.« Aber nicht nur materielle Zuwendung erhielt sie, nein die Kinder schenkten ihr unglaublich viel Liebe, sahen sie als Vorbild, an dem sie sich orientierten. »Ihr müsst nur sehr aufpassen, dass ihr zum Beispiel nicht flucht, auch auf Deutsch, da die Amerikaner nur zu gut wissen, was die meisten Schimpfwörter bedeuten.« Das steigerte meine Erwartungen nun um einen weiteren Punkt. Ich sah mich bereits das reinste Luxusleben führen. Haufenweise neue Kleider, Musicalbesuche, feine Restaurants und teure Pflegeprodukte.
Das einzig Harte sei für Anna-Lena die Rückkehr nach Deutschland gewesen: »Ich habe in dem Jahr so unglaublich viel gesehen und erlebt und war mehr als deprimiert, als ich feststellen musste, dass in Deutschland alles noch genauso aussah wie vorher und nichts sich verändert hatte.« Das konnte ich nur zu gut verstehen – mir fiel es ja schon schwer, nach einem Kurztrip wieder in das triste Heimatland zurückzukehren! Auch die deutsche Sprache bedeutete wieder eine Umstellung für sie: »Ich baue oft noch englische Wörter ein und sage Sachen wie: Ich nehme schnell eine Dusche.«
Nachdem sie fertig war mit ihren Erzählungen und wir Fragen stellen durften, kamen weitere ehemalige Au Pairs in den Raum, die uns alle mit der Ankündigung eines Interviews überraschten und nicht wenig schockten. Eigentlich hatten wir gedacht, erst zu einem anderen Termin interviewt zu werden, und ich zu meinem Teil war so gar nicht vorbereitet. Dementsprechend nervös wurde ich, als die ersten Fragen auf Englisch gestellt wurden. Ich antwortete so gut es ging und empfand meinen Wortschatz als äußerst dürftig. Eine Ansicht, die meine Interviewerin aber offenbar gar nicht teilte. Sie strahlte während des gesamten Gespräches über das ganze Gesicht, nickte eifrig und lobte meine tollen Antworten und Ideen. Die meisten Fragen waren glücklicherweise recht simpler Natur, viele zudem dann auch wieder auf Deutsch.
Ich sollte zum Beispiel etwas über meinen Lieblingskinderfilm erzählen oder was ich mit den Kindern unternehmen würde, wenn es draußen geschneit hätte. Zu meiner Überraschung bekam ich für meine Englischkenntnisse dann auch noch die volle Punktzahl. Meine Lehrerin hätte mir noch nicht einmal die Hälfte gegeben, sondern nur missbilligend eine dünne Augenbraue hinter den dicken Brillengläsern hochgezogen und das Lineal laut auf ihre knöcherne Hand klatschen lassen. Lediglich einen kleinen Fauxpas erlaubte ich mir bei der Frage, was die längste Zeit sei, die ich bereits an einem Stück auf Kinder aufgepasst hatte, und viel zu ehrlich drei Stunden antwortete. Andere waren geistesgegenwärtiger und antworteten prompt mit zehn, der maximalen Arbeitszeit eines Au Pairs. Ich war mir ziemlich sicher, dass das nicht immer stimmte, aber es machte sich natürlich um einiges besser auf der Bewerbung. Panisch sah ich mich im Kampf um die beste Gastfamilie plötzlich einiges an Vorsprung verlieren.
Als das Interview endlich überstanden war, bekamen wir einen Zettel, auf den wir unser gewünschtes Abreisedatum schreiben sollten. Ich entschied mich für August, denn so blieb mir noch etwas Zeit, nach dem Abitur erst einmal durch Europa zu reisen. Auch sollten wir ankreuzen, ob wir einen Freund haben oder nicht. »Einige Gastfamilien sehen es nicht so gerne, wenn man einen Freund hat, denn dann ist man oft anfälliger für Heimweh.« Da brauchten sie sich bei mir keine Gedanken zu machen, meine Familie befürchtete eher, dass ich für den Rest meines Lebens allein bleiben würde. Männer schenkten in der Regel der Deckenbeleuchtung im Club mehr Beachtung als mir. Außerdem sollten wir angeben, ob wir bereit seien, bei Familien einer anderen Religion oder „Race”, bei Homosexuellen oder Singleeltern zu wohnen. Single Dad schloss ich sofort aus, da ich mir das unter gewissen Umständen etwas unangenehm vorstellte. Meine Erfahrung mit dem männlichen Geschlecht beschränkte sich wirklich auf ein Minimum. Der Punkt „Race“, bereitete mir am meisten Kopfzerbrechen. Natürlich hatte ich nichts gegen andere Kulturen, aber ich wollte ja unbedingt den amerikanischen „way of life“ kennenlernen. Doch würde es nicht seltsam wirken, wenn ich hier ein Nein auswählte? Eines der ehemaligen Au Pairs beruhigte mich aber sofort: Man könne ankreuzen, was einem die Intuition sage, ohne sich dafür irgendwie rechtfertigen zu müssen. Sie selbst habe einfach überall ein Nein hingesetzt, da sie wollte, dass die neue Familie ihrer eigenen möglichst ähnlich war. So wurde es auch bei mir an dieser Stelle ein Nein. Zum Schluss mussten wir noch die maximale Kinderanzahl, auf die wir bereit waren aufzupassen, angeben. Mir erschien drei gerade richtig, soviel war ich von meinen Geschwistern gewohnt, und vier würden sicher eine Menge an Nerven erfordern. Bei der Altersspanne entschied ich mich für älter als fünf, da man mit Älteren immerhin einigermaßen vernünftig reden und auch mehr unternehmen konnte.
Bevor es nach Hause ging, zeigte uns Anna-Lena noch persönliche Fotos von ihrer unvergesslichen Zeit. Es war beruhigend, nicht nur von Werbefilmchen und Internetseiten zu hören, wie viel Schönes auf einen zukam, sondern dies auch von richtigen Au Pairs bestätigt zu bekommen.