20. August
Kaum ließ die Sonne verheißungsvoll ihr helles Licht durch die Vorhänge scheinen, verbreitete sich auch schon das Gerücht, dass die Zustände in der Schule absichtlich so abstoßend wären, damit man sich umso mehr auf seine Gastfamilie freue und schon Dankbarkeit empfand, wenn einem der Inhalt der Toilette nicht mehr entgegen gesprudelt kam. Das schien Sinn zu machen, die meisten konnten es kaum noch erwarten, zu ihren neuen Familien weiterzureisen.
Um acht Uhr fand das Departure-Meeting statt und wir bekamen noch Broschüren für den Reisemonat ausgeteilt sowie ein Zertifikat, dass wir den Unterricht in der School erfolgreich absolviert und die hygienischen Zustände einigermaßen unbeschadet überstanden hatten.
Wir wussten nun also, dass man volle Windeln nicht durch das Zimmer schmiss, dass Babys besser umgeschüttelt blieben und dass Kritik nur mithilfe der Sandwich-Methode vermittelt werden sollte. Was sollte da noch schiefgehen? Mädchen aus aller Herren Länder waren in der großen Schule zusammengeführt und zu gehorsamen, tüchtigen Au Pairs erzogen worden, damit sie in die Gastfamilien der amerikanischen Oberschicht entlassen werden konnten. In der Tasche stets das wertvolle, kiloschwere Handbuch, um jede noch so schwierige Situation meistern zu können. Nun konnte die Agentur reinen Gewissens sagen: Wir haben unseren Job getan, alles andere liegt jetzt an den Mädchen.
Um neun Uhr ging es endlich zum Flughafen. Von dort aus war es nur noch ein kurzer Flug und ich würde meiner Gastfamilie gegenüberstehen. Amelie und Caro landeten leider in einem anderen Bus und ich musste vorerst alleine mit meiner Nervosität fertig werden, bis ich mit einer Finnin ins Gespräch kam, die ebenfalls in G. wohnen würde. Wir tauschten ein paar Eckdaten aus, doch waren wir beide mit den Gedanken schon längst bei dem, was uns wohl erwarten würde. Viel zu schnell wurde es dreizehn Uhr und damit Zeit, an Bord zu gehen.
Meine Sitznachbarin entpuppte sich als nette ältere Dame, die zumindest dafür sorgte, dass während des Flugs keine Langweile aufkam. Wo ich denn herkomme? Aus Deutschland? Wie nett. Und was würde ich in Amerika machen? Au Pair! Das wäre ja wundervoll. Wo? In der Nähe von Chicago? Toll. Ihre Kinder und Enkel würden dort auch wohnen! Ob ich denn ihr denn die Nummer meiner Gastfamilie geben könnte? Man könne ja mal was unternehmen!
So leid es mir auch tat, musste ich die Begeisterung der Oma ein wenig dämpfen und behaupten, die Nummer meiner Gastfamilie nicht bei mir zu haben. Man konnte ja nie wissen, wie diese reagierten, wenn man ihre Daten einfach bei der ersten Begegnung an Fremde weitergab, und seien es nur nette ältere Damen. Immerhin waren auch schon einige Au Pairs wieder nach Hause geschickt worden, weil sie die Adresse unachtsam herausgerückt oder Fotos von der Gastfamilie auf Facebook gepostet hatten.
Nach nur anderthalb Stunden setzten wir auf das Rollfeld auf und mein Magen machte einen ziemlichen Satz, weniger wegen der Landung als wegen einer beginnenden Panikattacke. Ich versuchte mich zu beruhigen und überlegte, ob es vielleicht Sinn machen würde, sich einfach unter einem der vielen Sitze zu verstecken. Nein, das machte es leider nicht. Noch einmal tief durchatmen, und dann trat ich in das helle Licht der Chicagoer Sonne und begab mich auf den Weg zur Gepäckausgabe.
Und dort warteten sie bereits. Courtney, die noch viel jünger aussah als auf den Fotos und neben ihr die Zwillinge. Sobald sie mich erkannt hatte, stürmte Courtney mit einem breiten Lächeln auf mich zu und schloss mich fest in die Arme. Überrascht und gerührt von so viel Herzlichkeit, schaffte ich es, meine Nervosität einigermaßen zu bezwingen und die Kinder zu begrüßen, die verlegen ein selbstgemaltes Willkommensschild hochhielten. Die ganze Szene wirkte so idyllisch, dass ich mich direkt an die freudestrahlenden Gesichter glücklicher Au Pairs auf der Agenturseite erinnert fühlte. Vielleicht stimmten die ganzen Versprechungen ja tatsächlich alle. Vielleicht würde das wirklich das beste Jahr meines Lebens werden.
Kaum hatte ich meine sperrigen Koffer vom Gepäckband gewuchtet, machten wir uns zusammen auf den Weg zum Auto. Die Kinder waren noch sehr zurückhaltend, aber Courtney war unheimlich freundlich und wir schafften es, das Gespräch nicht abflauen zu lassen. Der Wagen entpuppte sich als wahres Ungetüm, von der Größe einer Einzimmerwohnung – nun man hatte ja schon einiges gehört über die Vorliebe der Amerikaner zu großen Autos. Was mich doch noch ein wenig mehr überraschte, war die Tatsache, dass Courtney den Kindern, kaum dass sie im Wagen saßen, ausgiebig die Hände desinfizierte. In dem Punkt hatte die Trainingsschool schon einmal recht behalten. Auch während der Fahrt unterhielten wir uns weiter, denn die Zeit in New York bot immerhin eine ganze Menge Gesprächsstoff. Den Ratschlag, alles dort in höchsten Tönen zu loben, beachtete ich nicht wirklich, mir schien es besser, einfach ehrlich zu sein, denn warum sollte ich jemandem Märchen erzählen, zu dem ich hoffte, ein gutes Verhältnis, das auf Vertrauen basiert, aufzubauen?
Courtney zeigte sich über Dinge, wie die kleinen Untermieter in den Zimmern auch angemessen entsetzt und selbst die Kinder hörten interessiert zu. Lediglich die Klimaanlage setzte mir wieder einmal sehr zu, da sie die gesamte Fahrt sämtliche Kälteregister zog und mich selbst im schicken AP-Pullover frieren ließ.
Nach einer Weile hielten wir bei einem großen Supermarkt, Target, und als wir den Parkplatz überquerten, fasste Lily schon ganz zutraulich nach meiner Hand. Ich durfte mir aussuchen, was ich essen wollte, aber da ich keine Ahnung hatte, was bei der Familie schon alles im Kühlschrank zu finden war und ich auch nicht wollte, dass Courtney direkt am ersten Tag Unsummen für mich ausgab, hielt ich mich sehr zurück. Viel interessanter war es ohnehin, zu beobachten, welche Dinge sie in den Wagen legte, da ich hoffte, mir so ein besseres Bild über sie machen zu können. Erfreut stellte ich fest, dass Courtney großteils Organic Food und gesunde Nahrung einpackte. Die Familie schien also sehr auf ihre Ernährung zu achten. Am meisten faszinierte mich aber die Tatsache, dass sämtliche Lebensmittel umgehend von fleißigen Mitarbeitern in Tüten verstaut wurden. Und wir erledigten das in Deutschland noch ganz rückständig selber.
Es war danach auch nicht mehr weit bis zum Haus der Familie, welches, wie Amelies Gastmutter, Edith, bereits geschwärmt hatte, wirklich wunderschön war. Die Räume gestalteten sich hell und luftig, die Einrichtung freundlich und äußerst geschmackvoll. Nicht zu vergessen, war alles viel größer und öfter vorhanden, als es von vier Personen überhaupt genutzt werden konnte. Es gab alleine drei Wohnzimmer, darunter einen Living Room und einen Family Room. Den Unterschied habe ich bis heute nicht verstanden. Mein Reich erstreckte sich fast über das gesamte Kellergeschoss, wozu eine eigene kleine Küche, ein riesiger TV-Raum, ein Bad und ein Schlafzimmer zählten. Dies war ganz sicher nicht die chaotische Studenten-WG, die viele nach dem Abi erwartete.
Meine zukünftige Dusche bot locker für vier Leute Platz und das Bett mit den zwei Matratzen und den unzähligen Kissen, die kunstvoll auf der Überdecke drapiert waren, ließ mich vor lauter Vorfreude erschauern. Als Willkommengeschenk wartete ein 20-Dollar-Gutschein für ein Café namens Coffee Roast in einer kleinen Papiertüte auf mich. Meine Begeisterung hätte nicht vollkommener sein können.
Courtney zeigte mir noch den Rest des Hauses, kein leichtes Unterfangen bei der Anzahl an Zimmern, und anschließend setzten wir uns in einem der Wohnzimmer zusammen. Die Kinder schienen mittlerweile gänzlich aufgetaut, sprangen wild durch die Gegend und schrien durcheinander.
Es hätte eigentlich ganz nett sein können, doch Henry wählte diesen Moment, um mir die erste unangenehme Überraschung zu bereiten. Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht vor Zorn und er stürzte sich scheinbar grundlos auf seine ahnungslose Schwester, um feste Schläge und Tritte auf sie herabregnen zu lassen. Dabei gab er sich nicht einmal Mühe, seine Absichten zu verschleiern, sondern brüllte frei heraus, dass er sie umbringen wolle. Ein wenig schockiert starrte ich erst das Geschehen und dann Courtney an, ganz gespannt darauf, wie sie nun reagieren würde und ob so etwas vielleicht vorkam.
Das schien es tatsächlich. Völlig unbeeindruckt wandte sich Courtney an die weinende Lily und begann zu meiner völligen Verblüffung mit ihr zu schimpfen: »Lily, das ist jetzt deine eigene Schuld! Ich habe dir schon so oft gesagt, dass du dich nicht auf den Boden legen sollst. Damit weckst du nur den natürlichen, tierischen Instinkt in deinem Bruder.« Von einem solchen Instinkt hörte ich das erste, aber leider nicht das letzte Mal. Henry demonstrierte eindrucksvoll dessen Ausprägung, indem er inzwischen dazu überging, auf seine Mutter einzuschlagen. Und dabei hatte diese sich nicht einmal auf den Boden gelegt.
Courtney lächelte allerdings einfach stoisch weiter und erklärte mir ein wenig gezwungen, dass etwas mit Henry nicht ganz in Ordnung sei, da die Zwillinge zu früh geboren worden waren. Diese doch recht wichtige Information war ihr bei unseren zahlreichen E-Mails und Telefonaten wohl bedauerlicherweise entfallen. Immer noch ein wenig perplex starrte ich auf den sechs Jahre alten Jungen, der mit seinen kleinen Fäusten und unter lautem Gebrüll heftig auf seine Mutter einschlug, die den Ausbruch inzwischen vollkommen ignorierte.
Aber anscheinend beschloss sie nun, alle Karten offen auf den Tisch zu legen, und riet mir, dem kleinen, aber äußerst willensstarken Hund der Familie, Stella, lieber nicht zu nahe kommen sollte. Er würde gerne einmal kräftig zubeißen. Der weiße Köter war mir vorher gar nicht richtig aufgefallen. Inzwischen musterte ich das fragliche Tier ein wenig beunruhigt, das, sobald es meinen Blick spürte, anfing zu knurren und die Zähne zu fletschen. Wunderbar. Damit gab es also schon zwei mit einem ausgeprägten Hang zu Gewalttätigkeiten in diesem Haus.
Gegen sechs traf dann auch der Gastvater ein, doch die Begrüßung fiel, wie ich schon geahnt hatte, eher hölzern aus. Ich wusste nicht wirklich, was ich zu ihm sagen sollte, und verspürte ein wenig Enttäuschung darüber, dass er sich nicht einmal nach meinem Flug erkundigte. Vielleicht konnte ich das Eis ein wenig brechen, indem ich endlich meinen ganzen Stolz, die sorgsam ausgesuchten Gastgeschenke aus dem Koffer hervorholte. Mein großer Moment war mir fast ein wenig peinlich, als ich selber auf all die Dinge starrte, die ich gekauft hatte, und beschloss, einige davon weiter in meinem Gepäck ruhen zu lassen. Spätestens zu Weihnachten würden sie dann ihren Zweck erfüllen.
Die meisten Geschenke für die Gasteltern kamen auch tatsächlich sehr gut an, vor allem die Süßigkeiten stießen auf Begeisterung. Mit den Geschenken für die Kinder war ich dagegen nicht ganz so erfolgreich. Henry schien wenig begeistert von seinem Playmobil Fußballspieler und der Deutschland-Cappy und riss stattdessen Lily ihr Lillifee-Tagebuch aus der Hand. Courtney setzte sofort eine besorgte Miene auf und fragte Henry ganz ernst, was er denn gerade fühlen würde. Etwa Eifersucht?
Da hatte ich scheinbar schon den ersten Fehler gemacht, vielleicht wäre es schlauer gewesen, beiden dasselbe zu schenken.
Courtney merkte mir meine zunehmende Beunruhigung wohl an, denn sie versicherte sofort, dass Henry sonst ein ganz lieber und ruhiger Junge sei und nur meinetwegen ein wenig überdreht reagiere. Auf den Boden würde ich mich aber trotzdem erstmal nicht legen, ansonsten lief ich wahrscheinlich in Gefahr, sowohl von Henry als auch Stella dank ihres ausgeprägten Instinkts direkt attackiert zu werden.
Zum Dinner fuhren wir in ein Restaurant namens Flight, wo ich den besten Burger meines Lebens mit Trüffelöl, Aioli und karamellisierten Zwiebeln verspeiste. Da konnte aber jeder McDonalds einpacken! Nur allzu gut erinnerte ich mich daran, dass es für mich als Kind das unbestrittene Highlight eines jeden Ausflugs gewesen war, wenn unser Auto in den Drive-Through einbog. Zum ersten Mal erlebte ich dann auch selber die Vorteile des Free Refills und konnte nach Lust und Laune so viel trinken wie ich wollte, da man ja nur den ersten Becher bezahlte. Die Kellner waren alle sehr freundlich und sogar von Andrew kam eine Frage: »Ist Fußball wirklich so berühmt in Deutschland?« Da machte es auch nichts, dass Courtney sich kurzzeitig aus Versehen entblößte und plötzlich im BH dasaß, was sie aber relativ gelassen nahm. Immerhin richteten auch Henrys Fäuste ihre volle Aufmerksamkeit auf den Burger und ließen uns für ein paar Stunden in Ruhe.
Wieder im Vorzeigehaus angekommen, war ich mehr als froh, in meinem sauberen Bettentraum versinken zu können und mich auf eine unüberflutete Dusche nur für mich allein am nächsten Morgen zu freuen. Mein erster Tag bei der Gastfamilie war also geschafft.